Nun ist die große komplizierte Schwester der Selbstdisziplin gefragt: die Geduld. Und auch Selbstkritik kann nicht schaden.
Lauscht man Mitmenschen, verfestigt sich der Eindruck wir wären wie die Norditaliener seit Wochen unter Quarantäne. Dabei beginnt erst der dritte Tag. Während sich in Italien nach einer längeren Phase der Isolation Städter aus Fenstern und auf Balkonen mittels Musik ein Zeichen der Verbundenheit und des Durchhaltevermögens schenkten, begannen das die ersten Wiener bevor die Ausgangsbeschränkungen überhaupt noch in Kraft getreten waren. Wir stehen aber erst am Anfang. Es dauert noch. Und zwar noch ziemlich lange, die aktuelle Situation wird noch Wochen dauern, massive Einschränkungen unseres gewohnten Alltagslebens werden wir noch Monate erdulden müssen. Zu diesem Schluss kommt man nicht nur nach Gesprächen mit Verantwortlichen, sondern wenn man auf die mittlerweile allseits bekannte Grafik schaut, dass bei einem Erfolg der Maßnahmen die Kurve der Neuerkrankungen sich frühestens im Mai deutlich verflacht. Daher ist nun die große komplizierte Schwester der Selbstdisziplin gefragt: die Geduld. Die Hoffnung, dass wir alle im Familienverband Ostern feiern, ist leider eine Illusion.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat zuletzt das getan, was so viele in Europa vollzogen haben: einen totalen Schwenk. Am Sonntag ließ er noch Wahlen abhalten, am Montagabend verkündete er ähnliche Schritte wie Österreich gesetzt hatte und verwendete mehrmals in seiner Ansprache die Formulierung „Krieg“. Damit steht er nicht alleine, Politiker und Chefredakteure sprachen noch vor einem Monat von Panikmache und PR, heute sehen sie es anders. Und das ist gut so. Ein Beispiel: Als Anfang dieses Monats ein Zug am Brenner gestoppt wurde, weil sich darin möglichweise Passagiere befanden, die bereits an Corona erkrankt waren, war dem zuständigen Tiroler Bezirkshauptmann, der das zu verantworten hatte, Spott und Häme sicher. Heute würden wir das anders einschätzen. Auch Günther Platter formuliert die Dinge, die in und nach Ischgl passiert sind, nun anders, beziehungsweise schreibt über das Krisenmanagement des Landes Tirols, das dem Rest Österreichs in der Corona-Entwicklung ein paar Tage voraus ist, vorsichtiger. Auf Facebook hieß es gestern Abend auf seinem Profil: „Wenn ich auf die vergangenen Wochen zurückschaue, so kann ich sagen: Wir haben in Tirol umfassend reagiert und das Menschenmögliche in der jeweiligen Situation getan.“ Aber: „Alles richtig zu machen ist angesichts dieser Krise, die weltweit einzigartig ist, nicht möglich. Das müssen wir uns eingestehen. Leider kann niemand das Buch von hinten lesen. Ich sage das an dieser Stelle ganz bewusst. Wir machen vieles richtig und die schnellen Entscheidungen, die wir in Abstimmung mit der Bundesregierung treffen müssen, sind sehr radikal. Aber diese Kompromisslosigkeit rettet am Ende Leben.“ Und: „Natürlich müssen wir Abläufe im Nachhinein auf den Prüfstand stellen und klären, was besser gemacht werden hätte können. Wir werden das auch rasch aufarbeiten müssen. Das wird auf der ganzen Welt notwendig sein und natürlich auch bei uns in Tirol – damit wir daraus Lehren für die Zukunft ziehen.“
Das klingt doch schon ganz anders als Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg einen Abend zuvor.
Und noch eine Klarstellung kommt von mir, gestern schrieb ich gedankenlos über die beiden „Staatsmedien“ ORF und APA. Kollege Chefredakteur Johannes Bruckenberger schrieb mir: „Lieber Rainer, auch wenn es flapsig und unter Anführungszeichen am Ende Deiner heutigen Kolumne steht und Du es vermutlich auch gut im Sinne von „staatstragend“ in dieser Situation meinst, was aber die wenigsten Leser verstehen werden. Darum fürs ewige Kolumnenbuch: Die APA ist kein „Staatsmedium“. Auf solche Bezeichnungen reagieren wir in der APA-Chefredaktion seit Andi Nowak-Zeiten sehr allergisch, weil wir eben unabhängig von Staat und Regierung sind und im Privateigentum der Medien stehen. By the way: Sei froh, dass ich es bin, mein Vor-Vor-Vorgänger hätte Dich wahrscheinlich durchs Telefon angebrüllt. Das kannst Du gerne für Deine Kolumne verwenden. Bleib uns gewogen!“
Das mache ich. Und morgen melde ich mich mit kleinen Beobachtungen aus unserer Corona-Kolumne.
>>> Tag 1: Ausgangssperre, Ausgangsbeschränkung
>>> Tag 2: Wiener Amtswege, Tiroler Richtigkeit, Deutsche Spätzündung
>>> Tag 3: Diese Situation wird länger dauern und wie Platter Fehler einräumt
>>> Tag 4: Tiroler und Wiener Sperren, Siegfried Kurz und Bibi Netanjahu