Zitronen

Wenn das Restaurant Mirazur auf Zitrus setzt

Anna Burghardt
  • Drucken

Die südfranzösische Stadt Menton ist ein Zitruszentrum, „Citron de Menton“ ihr Aushängeschild. Der Garten „La Casetta“, in dem 160 Zitrussorten wachsen, wurde vom Sternekoch Mauro Colagreco wiederbelebt.

Was Mentons kulinarisches Aushängeschild ist, wird bei einem Bummel durch die pittoresk farbenfrohe Fußgängerzone der Kleinstadt an der Côte d’Azur schnell klar: Keine fünf Häuser nebeneinander, in denen sich kein Zitrusgeschäft angesiedelt hat. In den Regalen: Marmeladen, Liköre, aromatisierte Öle, Seifen und Kerzen in Zitronenform – und, während der Saison im ersten Jahresviertel, auch frische Früchte. Jene Sorte, für die Menton unter Botanikern und Köchen in ganz Frankreich bekannt ist, nennt sich schlicht „Citron de Menton“. Es gibt mehrere Qualitätsstufen, die höchste, „Extra Citron de Menton“, kann in Paris Preise bis zu zehn Euro pro Kilo bedeuten. Die Schale dieser Zitronenart ist geradezu süß statt bitter, sehr aromatisch, die Früchte sind relativ schwer, und das Fruchtfleisch schmeckt nicht allzu sauer. Weshalb man sie auch in Scheiben essen kann (oder gar, ganz unerschrocken, wie einen Apfel) – wenn man sie nicht in, unter und auf einem Huhn ins Rohr schiebt, Tarte au Citron bäckt oder sonst etwas damit in der Küche anstellt.

Haushohe Zitronenfiguren. Die Abertausenden Zitronen, mit denen jene gewaltige Figuren bestückt werden, die während der jährlichen Fête du Citron üblicherweise für einen Besucheransturm sorgen, stammen indes mitnichten aus heimischem Anbau: Sie kommen aus Spanien und werden nach dem Festival zu Schleuderpreisen verkauft. Heuer wurden Teile der 87. Fête du Citron wegen des Coronavirus sehr kurzfristig abgesagt. Auf dem Areal der Jardins Biovès waren dennoch die längst fertiggestellten haushohen Gestalten aus Stahl, Zi­­tronen und Orangen zu sehen, die wie jedes Jahr unter einem Motto standen. Diesmal: „Feste der Welt“, sprich: venezianische Masken, ein riesiger Bayer in Lederhose samt Brezn und Bierglas, ein Schiff, das für das thailändische Wasserfest steht. Die Früchte werden einzeln mit Gummibändern an den Gerüsten befestigt, solche, die schimmeln oder auf andere Art schwächeln, tauscht man sukzessive aus.



Während es bei den Zitrusfrüchten für die Fête du Citron nur um billige Masse und gleichförmige Maße geht, steht anderswo die gewaltige Geschmacksvielfalt der Zitrusgattung im Fokus. Das hoch über dem Meer und mit prachtvollem Blick über Mentons Silhouette gelegene Restaurant Mirazur, das drei Michelin-Sterne hat, sich noch für ein paar Monate Nummer eins der Liste „World’s 50 Best Restaurants“ nennen darf und überdies seit Kurzem gänzlich plastikfrei arbeitet, zieht längst Gourmets aus aller Welt an. In den Monaten Februar und März gibt es hier auf Wunsch ein Zitrusmenü, in dem jeder Gang auf den unterschiedlichsten Teilen von über siebzig Zitrusarten basiert, die fast alle in Menton wachsen. Mit weißen Orangenblüten, die so unspektakulär aussehen und dabei so fabelhaft und intensiv duften, arbeitet das Küchenteam unter Chef Mauro Colagreco ebenso wie mit dem roten Fruchtfleisch von Blutorangen, mit grünem Limettensaft, den frischen dicken Schalen riesiger Zedratzitronen oder den fast schwarzen Schalen getrockneter Mandarinen, die gerieben unter anderem in Schokolademasse landet.

Begehrtes Zertifikat. Auf den Terrassen des Mirazur-Gartens unterhalb des Restaurants wuchsen schon lang vor der Übernahme durch Colagreco zahlreiche Zitrusbäume. Die reifen Grapefruits aus diesem Garten sind heuer wegen der Trockenheit gerade einmal so groß wie Golfbälle, die „Citrons de Menton“ gedeihen dafür ebenso wie die Mandarinen prächtig, erzählt der argentinischstämmige Küchenchef. Seit einem Jahr darf das Mirazur die hauseigenen Zitronen mit dem geschützten Namen „Citron de Menton“ bezeichnen – dies ist ein  Zertifikat IGP – „Indication géographique protégée“.  „Das Zertifikat für die Menton-Zitronen zu bekommen ist ziemlich mühsam“, erzählt Mauro Colagrecos Frau Julia, „im Bürgermeisteramt von Menton ist eine Person nur dafür zuständig. Man muss die Bäume – die müssen so und so alt sein – melden, dann kommt jemand, untersucht die Bäume genau und so weiter.“ Sie verdreht kurz die Augen. Wenn auf Mentons Marktständen „Citrons du pays“ angepriesen werden, handle es sich um dieselbe Sorte, nur ohne Zertifikat.

Menton, dem Département Alpes-Maritimes zugehörig, hat wegen einer mächtigen Felswand, die die Sonnenwärme speichert, ein fruchtbares Mikroklima. „Ich habe das Gefühl, jeder Garten hat hier ein anderes Mikroklima“, sagt Mauro Colagreco, der mit seiner Familie selbst direkt unterhalb der Felswand wohnt. Die Anzahl der Zitrusbauern in Menton betrug einst rund zweihundert, die aromatische Frucht war ein wichtiges Handelsgut. Heute wachsen zwar in den terrassierten Gärten, neben Paradiesvogelblumen, Ginster, Rosen und sogar Bananen, noch üppig Zitronen, aber längst nicht alle davon werden gepflückt und genützt; vor allem auch, weil es in Menton sehr viele Zweitwohnsitze gibt, deren wohlhabende Besitzer oft nur wenige Wochen im Jahr hier an der französischen Riviera weilen.

Auch die Früchte im städtischen Zitrusgarten La Casetta, auf mehreren Terrassen hoch über dem Meer gelegen, waren lang dem natürlichen Verfall preisgegeben, verfielen fast sämtlich ungenutzt. Als Mauro Colagreco frisch nach Menton gezogen war, besuchte er die zwei städtischen Zitrusgärten – außer La Casetta gibt es auch noch jenen des Palais Carnolès – und war mehr als verwundert über die vielen Früchte, die dort ungenutzt auf dem Boden lagen. Er erkannte diesen Schatz aus sage und schreibe hundertsechzig Sorten von über vierhundert Bäumen und suchte bei der Stadt Menton um ein Nutzungsrecht für die Küche des Mirazur an. Mauro Colagrecos Neffe Nahuel di Gregorio, der auch den Gemüsegarten des Mirazur auf einem halbverfallenen mondänen Villenareal in der Gasse hinter dem Sternerestaurant bewirtschaftet, kommt regelmäßig in den eingezäunten Garten La Casetta pflücken – jeweils nach Anmeldung bei der Stadtverwaltung.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.