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Deglobalisierung: Die Weltwirtschaft und ihr „Lehman-Moment“

Der weitgehend ungehinderte Austausch von Gütern hat die Weltwirtschaft stark gepusht. Jetzt bedroht aufkommender Nationalismus dieses Modell. Das könnte den Wiederaufschwung nach der Coronakrise bremsen.
Der weitgehend ungehinderte Austausch von Gütern hat die Weltwirtschaft stark gepusht. Jetzt bedroht aufkommender Nationalismus dieses Modell. Das könnte den Wiederaufschwung nach der Coronakrise bremsen.(c) REUTERS (Fabian Bimmer)
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Die Coronapandemie hat ein paar Schwächen der „Weltfabrik“ sichtbar gemacht. Statt Globalisierung neu zu denken, wird der Ruf nach Renationalisierung laut. Das gefährdet das größte Wohlstandsprogramm der Geschichte.

Die Nachricht kam vor drei Wochen – und sie ist damals ein wenig untergegangen: Der Pharmakonzern Sanofi gründet einen europäischen Hersteller für Medikamentenwirkstoffe. Das neue Unternehmen soll in kurzer Zeit zum zweitgrößten Wirkstoffhersteller der Welt aufgebaut werden.

Die Sache ist insofern interessant, als sie eine direkte Reaktion auf die globale Coronakrise ist. Die hat nämlich einige Schwächen der globalisierten „Weltfabrik“ aufgedeckt. Zum Beispiel die zu große Abhängigkeit bei Medikamenten: 80 Prozent der Medikamentenwirkstoffe kommen aus China und Indien.

Das heißt: In vielen Fällen kommen die Grundstoffe aus China und werden in Indien zu Generikawirkstoffen weiterverarbeitet. Stockt die Grundstoffproduktion in China – etwa wegen virusbedingter Quarantänemaßnahmen –, dann wackelt die Medikamentenversorgung der gesamten Welt.

Das gilt unterdessen als dringend korrekturbedürftig. Und wird auch gerade korrigiert. Es sieht so aus, als wäre die Globalisierung, das größte Armutsbekämpfungsprogramm, das dieser Globus je gesehen hat, ein Stück zu weit gedreht worden. Und hätte dadurch zu große Abhängigkeiten von einzelnen Regionen geschaffen. Und es sieht so aus, als hätte der Corona-Erreger mit seiner Unterbrechung der globalen Lieferketten diese Abhängigkeit erst so richtig sichtbar gemacht.
Die Globalisierung, wie wir sie kennen, war allerdings schon vor Ausbruch der neuen Lungenkrankheit ernsthaft in Gefahr. Etwa durch den chinesisch-amerikanischen Handelskrieg um die globale Vormacht, der zu starken wirtschaftlichen Renationalisierungsbestrebungen in Amerika geführt hat.

Aber jetzt setzt offenbar ein noch viel großflächigeres Umdenken ein. Auf Unternehmensebene ebenso wie in der Politik. Der jetzt oft gehörte Spruch, nach dieser Krise werde nichts mehr so sein wie vorher, gilt also wohl auch für die globalen Wirtschaftsbeziehungen.

Absehbar ist nach der unmittelbaren Krisenbewältigung Folgendes:
► Es werden grenzübergreifende Lieferketten überprüft, diversifiziert und zu einem gewissen Teil auch renationalisiert werden.

► Es wird zu einem teilweisen Abgehen von der Just-in-time-Philosophie kommen. Derzeit haben Industrieunternehmen den weitaus größten Teil ihrer Lagerhaltung ja aus Kostengründen auf Hochseeschiffe und Eisenbahnen beziehungsweise auf ihre Zulieferer ausgelagert. Selbst kleine Störungen bei weit entfernten Zulieferern führen da wegen Teilemangels schnell zu Problemen in der Produktion.

► Es wird auch zu teilweisen Produktions-Rückverlagerungen nach Europa kommen, was durch Digitalisierung und Roboterisierung stark erleichtert wird. Denn Maschinen produzieren weltweit zu ähnlichen „Arbeitskosten“. Dahinter steckt die Absicht, übergroße Abhängigkeiten, wie wir sie beispielsweise in Sachen Medikamente und medizinische Schutzbekleidung gegenüber China haben, zu verringern.

Der deutsche Starökonom Gabriel Felbermayr nennt das, was gerade passiert, den „Lehman-Moment“ der Industrie. So, wie der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers 2008 schonungslos die Schwächen der globalen Finanzwirtschaft aufgedeckt habe, was letztendlich auch Konsequenzen ausgelöst hat, so habe die Coronakrise die Verwundbarkeit der global vernetzten „Weltfabrik“ ans Licht gebracht.

In Politikeraussagen ist bereits eine starke Tendenz in Richtung einer neuen Industriepolitik für den lokalen Bedarf zu bemerken. Man kann nur hoffen, dass das mit Augenmaß geschieht und zu einer vernünftig diversifizierten „Globalisierung neu“ führt. Denn eine echte Renationalisierung wäre mit hohen Wohlstandseinbußen verbunden. Und würde den Wiederaufschwung nach der Coronarezession behindern.
Das wird noch eine spannende Diskussion. In die wohl auch der erbärmliche Zustand des europäischen Binnenmarktes einfließen wird, der ja gerade jetzt von nationalistisch orientierten Politikern demonstriert wird: Statt einer einheitlichen europäischen Antwort auf die Coronapandemie, wie sie etwa der italienische Premier Guiseppe Conte fast flehentlich verlangt hatte, zieht die Europäische „Gemeinschaft“ gerade höchst nationale Seiten auf. Statt Pandemiegebiete koordiniert zu isolieren, zieht man nationale Grenzen wieder hoch, versucht sich zumindest in der Anfangsphase an nationalen Exportverboten für medizinische Schutzkleidung und behindert massiv den Warenverkehr innerhalb des europäischen Binnenmarkts.

Die Coronakrise hätte Europa die Chance geboten, massiv zusammenzurücken und eine gemeinsame Antwort auf die gesundheitliche und wirtschaftliche Bedrohung zu finden. Diese Chance wird soeben großflächig vertan. Die „NZZ“ nennt die gegenwärtige Krise „größter EU-Stresstest der Geschichte“. Kleinkarierte europäische Politiker sind soeben dabei, diesen Stresstest zu verbocken.

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