Bildungswissenschaft

Goldene Schulstunden für ein gesundes System

Für eine Balance bei Schülern und Lehrern ist theoretisches Wissen nötig.
Für eine Balance bei Schülern und Lehrern ist theoretisches Wissen nötig.REUTERS
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An der Pädagogischen Hochschule Salzburg widmen sich ein Buch und eine Tagung frischen Ideen, die an Schulen der psychischen und physischen Gesundheit aller Beteiligten förderlich sind. Für eine Balance bei Schülern und Lehrern ist theoretisches Wissen nötig.

Es war in einer Unterrichtsstunde vor Coronazeiten: Zehnjährige sollen in Kleingruppen arbeiten. Ein Bub schafft es nicht, sich zu konzentrieren; er verlässt die Gruppe immer wieder, um Wasser zu trinken, stört dadurch die anderen. Die Lehrerin weist ihn insgesamt fünfmal darauf hin, was zu tun ist. Als er kurz vor Ende der Stunde hinaus zur Toilette will und sie sich in den Weg stellt, schubst er sie von sich – und läuft weg.

Helle Jensen, dänische Psychologin, Familientherapeutin und Mitautorin mancher Erziehungsbestseller des 2019 verstorbenen Jesper Juul, schilderte diese Szene bei der Fachtagung „Gesund und erfolgreich Schule leben“, die Ende Februar an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Stefan Zweig stattfand. An manchen Tagen sind Lehrer mit Situationen wie der eingangs beschriebenen konfrontiert; an anderen erleben dieselben Lehrer, was Jensen als „goldene Stunde“ bezeichnet – eine Unterrichtseinheit, in der alles gelingt, in der der Stoff lebendig und in gutem Kontakt vermittelt wird und wechselseitige Wertschätzung spürbar ist.

Entscheidend sei die Fähigkeit, Beziehung herzustellen, gerade im Konflikt, lautet seit jeher Jensens Credo, aber auch die Fähigkeit, als Lehrperson die Gesamtverantwortung für die Situation zu übernehmen. Diese Kontrolle und Führung zu haben sei auch für die eigene Gesundheit wesentlich. Die Tagung im Februar basierte auf dem gleichlautenden Buch „Gesund und erfolgreich Schule leben“, das die Tagungsleiterin und Psychologin Elisabeth Seethaler zusammen mit der Bildungswissenschaftlerin Silvia Giger und dem Didaktiker Walter Buchacher (alle Lehrende an der PH Salzburg) schon im Herbst veröffentlicht hatten.

Bemühte Lehrer brennen aus

Der Band will zum Unterschied von diverser Ratgeberliteratur nicht „Gesundheitstipps“ geben, sondern zur Entwicklung eines Gesamtkonzepts gesundheitsfördernder Schulkultur beitragen – also eines für Psyche und Physis von Schülern, Lehrern, Schulleitern und Eltern zuträglichen Systems.

„Wir wissen aus der bisherigen Forschung, dass gerade die Lehrer ausbrennen, die sehr beziehungsorientiert und sehr bemüht um jedes einzelne Kind sind, häufig aber nicht gelernt haben, wie sie mit sich selbst ressourcenschonend umgehen“, sagt Seethaler. Um zwischen der Fürsorge für Kinder und der eigenen Gesundheit in Balance zu bleiben, brauche es auch theoretisches Wissen, wie es in den Curricula für Lehramtsstudierende zu wenig vorkomme. „Das Buch kann so etwas wie ein Missing Link zwischen der puren Ambition, mit Kindern zu arbeiten, und dem professionellen Beziehungsaufbau sein“, sagt Silvia Giger.

Das in drei Abschnitte gegliederte Werk gibt Lehrern im ersten Teil, „Lern- und Entwicklungsprozesse“, viel theoretisches Rüstzeug an die Hand, um ihre Schüler in der psychischen und mentalen Persönlichkeitswerdung zu unterstützen. Der zweite Teil, „Schulkultur im Fokus“, dürfte vor allem für Schulleiter interessant sein, da er das Implementieren guter Lern- und Arbeitsbedingungen sowie einer gesundheitsförderlichen Schulkultur in den Fokus rückt.

Gesunde Jause ist nicht genug

Man möchte dabei wegkommen vom Denken in Einzelprojekten wie „Gesunde Jause“ oder „Bewegte Schule“, sagt Giger. So löblich sie alle seien, solle es mehr darum gehen, gute Gesamtkonzepte zu entwickeln: „Was können wir tun, damit es uns allen gut geht, wo sind unsere Bedarfe?“

Im dritten Teil, „Kristallisationspunkte im Schulalltag“, werden konkrete Fälle aufgegriffen und theoretisch fundierte Wege aufgezeigt, um Herausforderungen zu begegnen: Wie lobt und wie straft man? Wie reagiert man angemessen auf Prüfungsangst? Wie sieht eine zeitgemäße Moralentwicklung aus? Fragen, die noch einmal zurück zur Tagung führen. Oft seien in Krisen nicht nur Schüler, sondern auch Lehrpersonen in Wirklichkeit „außer sich“, sagt Helle Jensen. Im Nachhinein könne manchmal schon hilfreich sein, sich zu fragen, was man eigentlich selbst als Lehrperson im Augenblick des Geschehens empfunden habe. Die Lehrerin, die mit dem Zehnjährigen in Konflikt geraten war, reflektierte übrigens auf genau diese Frage, dass sie durch die Situation zu beschäftigt gewesen sei, um die Unsicherheit des Kindes zu erkennen. Sie beschloss, sich am nächsten Tag bei dem Buben zu entschuldigen. Jensens Fazit: „Das war eine Lehrerin, die keine Angst hatte, ihre Autorität zu verlieren. Es ist immer wieder möglich, Beziehung herzustellen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2020)

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