Argentinien

Das Virus kriecht in die Elendsviertel

Tango-Tanzen mit Mundschutz. Aber neuerdings sind Tango-Shows in Buenos Aires für mindestens zwei Wochen verboten.
Tango-Tanzen mit Mundschutz. Aber neuerdings sind Tango-Shows in Buenos Aires für mindestens zwei Wochen verboten.REUTERS
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Covid-19 hat ein Land erreicht, das fast pleite ist, nicht mehr als ein paar Tausend Teströhrchen und nur ein einziges zertifiziertes Labor für Tests hat. Jetzt gilt es, Zeit zu gewinnen.

Buenos Aires. Auch was den Stadtnamen betrifft, erlebt Buenos Aires derzeit Wochen der Wahrheit. Wohl selten in fast fünf Jahrhunderten hatte hier jene gute Luft geherrscht, die einst die spanischen Eroberer in den Stadtnamen schrieben. Aber heute ist die Luft so gut wie seit Jahrzehnten nicht.

Eine milde Spätsommerbrise bläst das Platanenlaub zu Boden. Zwischen Hochhausfassaden zwitschern Vögel. Der Lärm der Autoradios, Presslufthammer, Hupen ist ausgeknipst. Bars, Cafés und Restaurants sind geschlossen. Argentinien ist in Quarantäne.

Der achtgrößte Flächenstaat der Welt wurde stufenweise heruntergefahren: Zunächst die Schulen, dann Staatsorgane, schließlich weite Teile der Wirtschaft. Seit acht Tagen gilt eine strikte Ausgangssperre. 3000 Menschen wurden wegen Quarantäne-Verstoß bereits festgenommen, etwa 1000 büßten ihre Fahrzeuge ein. „Die Argentinier sehen Verbote stets als Herausforderungen“, diagnostizierte Rechtsprofessorin Carmen Argibay.

Unverschämte Versuche, die Vorschriften zu umgehen, sind derzeit ein Schwerpunkt der Berichterstattung. Ebenso das Drama von Zehntausenden im Ausland gestrandeten Landsleuten ohne Chance auf Rückkehr, nachdem am Freitagmorgen sämtliche Grenzen geschlossen wurden.

Covid-19 ist im Süden Lateinamerikas angekommen. Anfang März wurde das Virus erstmals in Buenos Aires diagnostiziert, bei einem Textilhändler nach dessen Rückkehr aus Mailand. Inzwischen zirkuliert das Virus lokal. Zwölf Tote registrierten die Behörden bis Freitag landesweit, bei 589 bestätigten Infektionen. Nachdem aber kaum Test-Kits zur Verfügung stehen, und weil bis vor Kurzem ein einziges Labor alle Untersuchungen durchführte, dürfte die Zahl der Infizierten viel höher sein.

Expressweg für die Erreger

20.000 Kilometer entfernt von Wuhan hatte sich das Land sicher gewähnt. Aber dann explodierte die Zahl der Fälle in Norditalien. Zwölf Direktflüge pro Woche verbinden Buenos Aires mit Italien – ein Expressweg für die Erreger. Als das Virus dann auch noch Madrid verheerte, von wo aus mehr als 20 Maschinen wöchentlich nach Buenos Aires abheben, musste Präsident Alberto Fernández radikal handeln. Als er vor zwölf Tagen die Grenzen für Ausländer schloss, verzeichneten die Statistiken drei Tote. Massive Ausgangssperren erließ er, als gerade erst vier Argentinier an dem Virus verstorben waren.

Was wie eine Überreaktion anmutete, war, auch nach Ansicht der Opposition, die einzige Option für ein extrem fragiles Land an der Schwelle zum neunten Staatsbankrott. Fast pleite, mit nicht mehr als ein paar Tausend Teströhrchen und einem einzigen zertifizierten Labor, blieb Fernández nur eine Strategie: Zeit kaufen, um das ausgezehrte öffentliche Gesundheitssystem halbwegs vorzubereiten. Zwei Wochen, vielleicht drei oder vier; bis Ostern, wenn das der Conurbano durchhält.

Wie Wien ist Buenos Aires eine autonome, vergleichsweise wohlhabende Metropole. Aber der Unterschied zwischen den zwei Hauptstädten liegt in der Umgebung. 16 Millionen Menschen leben inzwischen im Conurbano, dem Gürtel um Buenos Aires, der kaum noch Speck hat nach neun Jahren Stagnation und Rezession. Einige Villengebiete, ein paar bürgerliche Gemeinden, vor allem aber Leid und Armut.

Angst vor Hungerrevolten

Mehr als 1000 „Villas miseria“ gibt es bereits. In den Elendsvierteln, wo viele Familien zu sechst, siebt oder acht in einem Raum leben, wo drei, vier Generationen sich eine Rohziegel-Behausung teilen, wo nur isst, wer Geld heimbringt, verursacht die Quarantäne Hunger, Zwist und nicht selten Gewalt.

Um zwölf Prozent werde die Wirtschaft im zweiten Quartal infolge der Quarantäne einbrechen, zitiert die Zeitung „Clarín“ aus einem internen Report. Darum fürchten die Bürgermeister des Conurbano bald Hungerrevolten. Und Tausende Tote durch das Virus. Überfüllung, Mangel an Wasser und Kanalisation, soziale Konflikte und zerrüttete Infrastruktur begünstigen die Übertragung der Keime. Und den Höhepunkt der Seuche erwarten die Epidemiologen im Mai. Dann wird es Winter in der Pampa.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2020)

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