Gastkommentar

Stellen Sie sich vor, Sie sind in Ihrem Maturajahr

Die Presse (Clemens Fabry)
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Von uns wird eine Leistung erwartet, die unter normalen Umständen erbracht werden kann. Die haben wir nicht.

Hanna Wittels ist Maturantin am Musischen Gymnasium Salzburg

Stellen Sie sich folgendes vor: Sie sind in Ihrem Maturajahr. Das aufregendste Jahr in einer Schullaufbahn, das Jahr, auf das all die Jahre hingearbeitet wurde. Seit Monaten stehen Sie unter massivem Leistungsdruck, Sie zählen die Tage, bis Sie all das endlich hinter sich lassen können. Und plötzlich steht die Welt Kopf. Eine Pandemie bricht aus, ein Land nach dem anderen ruft den Notstand aus, das Leben, wie Sie es kennen, existiert nicht mehr. Täglich sterben immer mehr Menschen, Sie haben Angst um Ihre Großeltern oder gar Ihre Eltern. Sie sitzen zuhause, und versuchen verzweifelt, schulisch auf dem neuesten Stand zu bleiben, denn das wird von Ihnen trotz der Notlage erwartet.

Von uns wird eine Leistung erwartet, die unter normalen Umständen erbracht werden kann, mit Unterricht und einem geregelten Ablauf dieses letzten Schuljahres. Den haben wir, die MaturantInnen 2020, nicht.

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Die österreichische Politik will darauf keine Rücksicht nehmen, denn unsere Gesellschaft ist leistungsorientiert, und das bekommen besonders die 40.000 MaturantInnen dieses Jahr zu spüren. Die Zentralmatura ist in ihrer Grundstruktur schon ungerecht, da sie dieselbe Leistung von jeder Person erwartet, ohne Rücksicht auf individuelle Unterschiede zu nehmen. Wie kann man von uns erwarten, so eine Prüfung abzulegen, ohne auch nur annähernd ausreichend Vorbereitung? In einer globalen Krisensituation? Diese Erwartungen fordern Privilegien, die nicht alle haben. Denn nicht jede/r SchülerIn kann die technischen Voraussetzungen erfüllen, nicht jede/r SchülerIn kann sich zuhause ein Ambiente schaffen, in dem gelernt werden kann.

Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand, in dem niemand weiß, was zu tun ist. Lehrpersonen sowie SchülerInnen sind unsicher, können schlechter miteinander kommunizieren und sich untereinander helfen. E-Learning ersetzt menschlichen Unterricht nicht. MaturantInnen werden von Zukunftsängsten geplagt, stehen unter enormen Druck. Und statt nach einer gerechten und schülerInnenfreundlichen Lösung zu suchen, wird weiterhin darauf beharrt, die Zentralmatura durchzuführen, denn „wir wollen doch keine geschenkte Matura haben“, oder?

Was genau an einer adäquaten Matura, die in einer globalen Krisensituation durchgeführt wird, geschenkt sein soll, ist unklar. Wir waren nicht weniger lange in der Schule, wir haben dieselben Leistungen erbracht wie MaturantInnen vor uns. Eine Matura, die nicht zentral durchgeführt wird, wäre nicht geschenkt, sie wäre den Umständen entsprechend angemessen, und vor allem: gerecht.

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