Gastkommentar

Solidarität in Zeiten von Corona

Nein, vor dem Virus sind wir nicht alle gleich. Fragen der sozialen Ungleichheit stellen sich jetzt verschärft.

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Jeder kann ein Lebensretter sein, wenn man sich an die Vorgaben hält“, sagt der Innenminister. Es ist klar: Keiner kann für sich allein gegen das Coronavirus kämpfen. Jede und jeder muss seinen Beitrag leisten – zum Wohle aller. In Zeiten von Corona wird ein Wert neu entdeckt: die Solidarität. Schließlich sind wir auch alle betroffen: Alle müssen wir unsere Routinen, ja unser Leben ändern. Nicht wenige tragen ein erhöhtes Risiko, weil sie 60plus sind oder eine Vorerkrankung haben, und jede und jeder von uns hat Angehörige oder enge Freunde, die zu diesen Risikogruppen gehören. Es liegt in unser aller Interesse, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht.

Sitzen wir also alle im gleichen Boot? Weil die Maßnahmen alle treffen, sich niemand freikaufen kann aus Quarantäne, das Virus keinen Unterschied macht zwischen Arm und Reich, Einheimischen und Fremden, Einflussreichen und Einflusslosen, wie immer wieder zu lesen ist? Nein. Vor dem Virus sind wir nicht alle gleich. Fragen der sozialen Ungleichheit stellen sich in der Coronakrise nicht nur weiterhin, sie stellen sich verschärft. Die Coronakrise trifft die ökonomisch Ärmsten besonders. Der Gesundheitszustand von Menschen im unteren Einkommensdrittel ist signifikant schlechter als jener der Durchschnittsbevölkerung – das macht sie im Fall einer Corona-Infektion zur Risikogruppe. Der Effekt des niedrigen Einkommens zeigt sich besonders deutlich bei den 40- bis 64-Jährigen, von denen 21% von mehrfachen Gesundheitseinschränkungen betroffen sind, während dies nur acht bzw. vier Prozent derselben Altersgruppe mit mittlerem bzw. hohem Einkommen sind. Ein Drittel der Bezieher von Sozialhilfe weist einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf, über die Hälfte ist chronisch krank. Menschen, die manifest arm sind, sterben im Schnitt um mehr als zehn Jahre früher als der Rest der Bevölkerung.

Menschen an und unter der Armutsgrenze leben häufig in überbelegten, kalten, dunklen und schimmeligen Wohnungen – das macht die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, noch einmal schlimmer. 263.000 Menschen in Österreich können ihre Wohnung nicht warm halten. Jährlich sind Schätzungen zufolge 60.000 Haushalte in Österreich von Strom- oder Gasabschaltungen betroffen. 58% der Kinder in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, leben in Wohnungen mit krasser Überbelegung, wie sollen sie sich da auf das Lernen konzentrieren?

Wenn wir unseren Blick weiten und über den österreichischen Tellerrand hinausschauen nach Griechenland, dann tritt uns die schon vor der Coronakrise verzweifelte Lage von 42.000 Schutzsuchenden vor Augen, die auf den griechischen Inseln unter erbärmlichen Umständen leben. Im Lager Moria auf Lesbos müssen fünf- oder sechsköpfige Familien auf drei Quadratmetern Fläche schlafen, es gibt nur eine Wasserzapfstelle für 1300 Bewohner, und Seife ist nicht erhältlich. Nicht auszudenken, was passiert, wenn hier Covid-19 ausbricht.

Es geht darum, Leben zu retten

Der Blick in die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln und in die Wohnungen von Familien an und unter der Armutsgrenze hier bei uns in Österreich wirft Fragen auf: Was heißt Solidarität, wie weit reicht sie, welche Maßnahmen umfasst sie? Meint Solidarität gemeinsame Betroffenheit und gemeinsames Handeln? Soll sie vorrangig die eigene Familie, die eigenen Bekannten, das eigene Land im Blick haben? Oder sollen wir Solidarität universal und global denken? Soll sich Solidarität nicht gerade auf die anderen, auf die Ausgeschlossenen, auf die, deren Lebensperspektiven begrenzt sind, richten? Das sind nicht Fragen zur Reflexion für die Zeit nach der Krise. Das sind Fragen, die wir uns jetzt stellen müssen. Denn es geht, der Innenminister hat recht, darum, Menschenleben zu retten.

Maria Katharina Moser (*1974) ist Direktorin der Diakonie Österreich.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2020)

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