Gastkommentar

Ein Killervirus für die EU

Das Corona-Virus hat den „Rette sich, wer kann“-Instinkt in den europäischen Nationalstaaten bestärkt. EU-Institutionen tauchten ab oder wurden außer Dienst gestellt. Wird die EU nun zum Schönwetter-Verband?

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Haben Sie schon einmal von Janez Lenarčič gehört? Der frühere slowenische Politiker und Diplomat ist nun EU-Kommissar und oberster Krisenmanager. Eine Krise bedeutet normalerweise Eile.

Doch der 53-Jährige geht es lieber bedächtig an. Erst am 19. März hat er angekündigt, „unverzüglich“ dringend benötigte Schutzausrüstung und Beatmungsapparate für alle EU-Länder zu besorgen. Lenarčič steht stellvertretend für den durch Covid-19 eingetretenen Bedeutungsverlust der EU. Das EU-Krisenmanagement war wochenlang so gut wie nicht bemerkbar. Auch das EU-Zentrum für die Bekämpfung von Krankheiten gab keinen Alarm, etwa zur Bevorratung in Spitälern.

Man muss fair bleiben: Das Gesundheitswesen blieb in nationaler Zuständigkeit. Die EU hatte hier wenig Kompetenzen, abgesehen vom Nichtraucherschutz. Die EU-Staaten handelten lieber nach dem Motto: „Rette sich, wer kann“. Ohne Koordination, lang ohne Solidarität und ohne Rücksicht aufeinander.

Gegen die Regeln des Binnenmarktes stoppte die deutsche Regierung alle Exporte von medizinischen Geräten; Lastwagen mit Masken und Schutzkleidung, die bereits von den österreichischen Gesundheitsbehörden bezahlt waren, wurden also an der Grenze blockiert. Die EU-Kommission sah lang untätig zu. Ungarn ließ Rumänen und Bulgaren auf ihrem Heimweg nicht durchreisen. Auch Pendler, darunter 24-Stunden-Pflegekräfte und Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, durften nicht mehr über die Grenze zur Arbeit. Erst am Montag forderte von der Leyen Ausnahmeregelungen für diese Berufsgruppen.

Italien erbat von europäischen Partnern vergeblich lebensrettende medizinische Waren. Die meisten Hilfsgüter kamen aus China und Russland. Immerhin transportierte Österreich Tonnen von medizinischem Material von China nach Südtirol. Erst seit Kurzem werden französische und italienische Covid-19-Patienten in deutsche Spitäler eingeliefert.

Nach längerer Schockstarre meldete sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem neuen Hilfsprogramm für kleinere Unternehmen und den Gesundheitssektor zurück. Die EZB beschloss ein Ankaufprogramm von Staatsanleihen. Die EU setzte auch die strengen Budgetkriterien außer Kraft. Aber da hatten sich längst schon die meisten EU-Regierungen von Nulldefizit-Zielen verabschiedet. „Als Europa echten Gemeinschaftsgeist brauchte, wählten zu viele zunächst den Alleingang“, klagte von der Leyen im Europaparlament. „Und als Europa wirklich beweisen musste, dass wir keine Schönwetter-Union sind, weigerten sich zu viele zunächst, ihren Schirm zu teilen.“

Was tut die EU? Nichts

Inspiriert von der Notsituation hat Ungarns Premier, Viktor Orbán, am Montag das Regieren mit Notstandsdekreten ohne parlamentarische Kontrolle durchgesetzt. Journalisten, die „falsche Nachrichten“ veröffentlichen, drohen fünf Jahre Haft. Was tat die EU-Kommission dagegen, dass ein Mitgliedsland so gegen die Grundwerte verstößt? Vorerst einmal nichts.

Es stimmt, dass die EU aus Krisen meist gestärkt hervorgegangen ist. Schon bald ist ein gemeinsamer europäischer Kraftakt notwendig, auch zur Wiederbelebung der Wirtschaft. Sonst werden sich viele Menschen enttäuscht von der EU abwenden. Und die Nationalstaaten, die zwar allein auch mit der Pandemie überfordert sind, werden nach der Rückkehr zur Normalität keine der gekidnappten Rechte an die EU zurückgeben und ihr schon gar nicht neue Kompetenzen übertragen. Die EU droht dann wirklich zur Schönwetter-Union abzusteigen.

Der Autor

Otmar Lahodynsky (65) ist Präsident der Association of European Journalists (AEJ) und war Europaredakteur beim „Profil“ und von 1988 bis 1995 Brüssel-Korrespondent der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2020)

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