Nicht das Virus verletze die Norm, sagt die Literaturnobelpreisträgerin: ´Die hektische Welt vor dem Virus war nicht normal´. Das Foto zeigt sie bei einem Treffen mit Autoren am 13. Jänner in Warschau.
Schriftsteller erleben die Coronakrise

Die Schlacht um eine neue Wirklichkeit

Vor unseren Augen verraucht ein Paradigma der Zivilisation, das uns über die letzten zweihundert Jahre geformt hat. Es lautete: Wir können alles und die Welt gehört uns. Jetzt kommen neue Zeiten.

Aus meinem Fenster sehe ich eine Weiße Maulbeere, einen Baum, der mich fasziniert; er war einer der Gründe, warum ich hier eingezogen bin. Der Maulbeerbaum ist ein freigiebiges Gewächs: den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über ernährt er Dutzende Vogelfamilien mit seinen süßen, gesunden Früchten. Jetzt aber trägt der Baum keine Blätter; so sehe ich ein ruhiges Stück Straße, die nur selten jemand entlanggeht. Das Wetter ist in Breslau fast sommerlich, die Sonne blendet, der Himmel ist blau und die Luft ist rein. Heute sah ich, als ich mit meinem Hund spazieren ging, wie zwei Elstern eine Eule von ihrem Nest vertrieben. Die Eule und ich, wir sahen uns aus kaum einem Meter Entfernung in die Augen.

Mir scheint, auch die Tiere warten auf das, was auf uns zukommt.
Ich hatte schon seit längerem zu viel Welt um mich herum. Zu viel, zu schnell, zu laut. Daher habe ich jetzt kein „Trauma der Isolation“; ich leide nicht darunter, dass ich mich nicht mit Menschen treffe. Ich bedaure nicht, dass die Kinos geschlossen sind, es ist mir egal, dass die Shopping-Malls außer Betrieb sind. Es sei denn, ich denke an all jene, die dort jetzt ihren Arbeitsplatz verloren haben. Als ich von der präventiven Quarantäne hörte, verspürte ich eine Art von Erleichterung, und ich weiß, dass viele ähnlich empfinden, auch wenn sie sich dessen schämen. So hat meine Introversion, die lange unter dem Diktat hyperaktiver Extrovertierter gelitten hatte, ja fast erstickt worden war, den Staub abgeschüttelt und ist aus dem Keller hervorgekommen.

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