Gastbeitrag

Achtung: Enkel nicht streicheln!

Ich bin 66, berufstätig und habe es satt, im Namen der „Heiligen Corona“ als hilfsbedürftige Alte stigmatisiert zu werden.

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Die Einführung unbequemer Maßnahmen – deren Notwendigkeit hier nicht in Zweifel gezogen werden soll – erfolgt in zermürbender Regelmäßigkeit mit Verweis auf Alte und Kranke.

20- und 30-Jährige fühlen sich berechtigt und sogar verpflichtet, ihre Eltern und Großeltern zu ermahnen und zu maßregeln, was sie nun zu tun und zu lassen haben. Aber dieses „Wir müssen unsere Senioren schützen“ – nicht nur ich kann es nicht mehr hören, sondern viele meiner Generation. Ich bin 66 Jahre alt, stehe im Berufsleben und habe es satt, im Namen der „Heiligen Corona“ als hilfsbedürftige Alte stigmatisiert zu werden.

Ist dies nicht ein Ageismus, der sich in ein Gewand der Fürsorglichkeit kleidet? Ist dies nicht die übliche Altersdiskriminierung, die es den Alten in diesen unüblichen Zeiten noch schwerer macht, ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten?

Heute wie gestern kann ich für mich selbst sorgen, ich kann allein einkaufen, einen Meter Abstand halten, meine Hände waschen und bin intellektuell auf ausreichender Höhe, mich nicht um Klopapier zu prügeln, keine Banknoten zu hamstern und keine Desinfektionsmittel zu stehlen. Den Großeltern wird eingetrichtert, dass sie gesellschaftlich unverantwortlich agieren, wenn sie ihren Enkeln nahekommen, weil diese sie anstecken könnten. Es läuft darauf hinaus, dass man als Alte/r nicht so unverantwortlich sein darf, ein Spitalsbett mit Apparaturen und Zubehör beanspruchen zu müssen. Also: Enkel nicht streicheln! Soziales Handeln durch Verweigerung sozialen Handelns.

Die Bilder hilfsbedürftiger Senioren wecken Assoziationen zu einem anderen Diskurs: Die Alterskohorten aus den Wirtschaftswunderjahren – die zwischen 1955 und 1965 Geborenen – haben sich schon lang damit abgefunden, als Boomer ironisiert zu werden. Dies bedeutet nicht nur, ein veraltetes Auslaufmodell zu sein, dessen Obsoleszenzdatum nunmehr durch Covid-19 repräsentiert wird. Es bedeutet auch, als Vertreter eines geburtenstarken Jahrganges beneidet zu werden, der den Luxus der einkommensstarken Zeiten genießt und die Umwelt kaputtmacht. Außerdem gehören Boomer und Boomerin zur Erbengeneration und verprassen Wohlstand und Zukunft der Kinder, die sich keine Häuser, Autos und Urlaube mehr werden leisten können – privilegierte Alte versus prekär beschäftigte Junge.

Hochsaison für Besserwisser

Die bisherige Corona-bedingte Umsicht ist gerade dabei zu mutieren in etwas, auf das die Bezeichnung Altenfeindlichkeit passt. In den digitalen Netzwerken wird gewettert, wenn ein mutiger 80-Jähriger es wagt, zur falschen Zeit in den Supermarkt zu gehen. Es erzürnt nicht wenige Poster, wenn die wichtigste Virus-Zielgruppe, wegen der man die Maßnahmen zu erleiden hat, sich nicht an diese hält – so als ob die Krankheit Jüngere gar nicht erfasste.

Solche Vorkommnisse bieten Anlass zu spitzzüngigen Bemerkungen über Altersweisheit; zwischendurch wird die Exekutive aufgefordert, endlich hart durchzugreifen. Es ist Hochsaison für Besserwisser, Denunzianten und ehrenamtliche Blockwarte.

Im gegenwärtigen Ausnahmezustand wird ein Virus gezüchtet, ein soziales Virus, das sich gerade in exponentiellem Wachstum überall einnistet. Es droht gemeinsam mit dem biologischen Virus außer Kontrolle zu geraten, wenn sich der Corona-Diskurs verschränkt mit dem Boomer-Diskurs, wenn die Alten noch immer Geld haben werden, aber viele Junge nicht mehr.

Die Autorin

Ingrid Thurner ist Ethnologin mit den Forschungsschwerpunkten Reisen und Mobilität. Sie war viele Jahre lang Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2020)

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