Geschichte

Stigmatisiert, entwürdigt und angefeindet

Gerhard Baader galt als „Mischling 1. Grades“. Der Historikerin Michaela Raggam-Blesch hat er von seinen Erfahrungen erzählt.
Gerhard Baader galt als „Mischling 1. Grades“. Der Historikerin Michaela Raggam-Blesch hat er von seinen Erfahrungen erzählt.(c) Privat
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Wiener „Mischehefamilien“ lebten zur Zeit des NS-Regimes oft in sozialer Isolation. Freunde und Nachbarn wandten sich ab.

Eine ganze Packung starker französischer Zigaretten rauchte Friedrich Kürt nach der im Radio übertragenen Abschiedsrede von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am Tag des „Anschlusses“. Seiner Tochter, der 1925 geborenen Liselotte Kürt, erschloss sich der Zusammenhang erst am nächsten Tag: Bis dahin hatte sie nichts von der jüdischen Herkunft des Vaters geahnt – und damit war sie nicht allein. Im Gegenteil. Aufgrund ihrer dunkelblonden Zöpfe war sie die Lieblingsschülerin ihrer nationalsozialistischen Lehrerin und wurde von älteren Mitschülerinnen beinahe für eine illegale NS-Organisation rekrutiert.

Widersprüche einer Ideologie

Doch das Leben der Familie Kürt änderte sich im Frühjahr 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich über Nacht dramatisch. „Denn zu den als Jüdinnen und Juden verfolgten Menschen zählten auch Personen aus gemischtkonfessionellen Familien, die bislang zumeist wenig Bezug zur jüdischen Gemeinde gepflegt hatten“, sagt die Historikerin Michaela Raggam-Blesch vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Sie forscht seit 2017 als Elise-Richter-Stipendiatin mit Mitteln aus dem Wissenschaftsfonds FWF zum Leben von Wienerinnen und Wienern „halbjüdischer“ Herkunft von 1938 bis 1945; erste Ergebnisse des Habilitationsprojekts liegen mittlerweile vor. Raggam-Blesch interessiert sich darin also für jene Menschen, die durch den Schutz eines nicht jüdischen Elternteils die Zeit des Nazi-Regimes überlebten. Sie schließt damit eine wichtige Lücke, weil deren Alltag, der von Entrechtung und Verfolgung sowie von der Ungewissheit ob einer ständig drohenden Gefahr geprägt war, für den österreichischen Kontext bislang kaum erforscht wurde. In welchem Ausmaß die Kinder aus „Mischehen“ betroffen waren, bestimmte die rassistische NS-Logik, die diese im Fall der Mitgliedschaft bei der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) als „Geltungsjuden“, andernfalls als „Mischlinge“ kategorisierte. Davon berichtet die Historikerin u. a. in dem von ihr mitherausgegebenen Buch „Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42“ (Mandelbaum), in der Festschrift für Albert Lichtblau, „Außerordentliches“ (Böhlau), sowie im Fachmagazin Journal of Genocide Research.

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