Briefe an Amalia

Geliebte Virenschleuder

Danke, dass ich mit Dir auf der Straße laut Unsinn reimen kann.

Wir schreiben Woche drei der Isolationszeit: Deine Großeltern siehst Du nur auf unseren Telefonen, die Stadt ist beinahe im Stillstand, Menschen auf der Straße weichen uns aus – Kinder gelten als Virenschleudern. Du blickst mit großen Augen in die Gegend und brabbelst. Du fasst mir ins Gesicht, zwickst mich in die Nase. In der Bäckerei, in der wir morgens Cappuccino und Nusskipferl holen, bist Du ein Lichtblick. Längst kennen wir den Namen des Enkels einer Verkäuferin. Sie sieht ihn nur auf ihrem Telefon.

Dich bekümmert das Virus nicht. (Obwohl wir Dich derzeit Rudi nennen, weil Du dieselbe Frisur wie der Gesundheitsminister hast.) Du greifst nach allem, was Dir unterkommt, blitzschnell steckst Du es in den Mund. Kabel haben es Dir besonders angetan; weil es davon genügend gibt, zerrst Du an ihnen, dass es eine Freude ist. Bisweilen habe ich den Eindruck, Du ahmtest manche der Leibesübungen nach, die Dein Vater nun zu Hause ausführt, während Du ihm belustigt zusiehst und mit den Armen ruderst. Du dienst ihm auch als verstärkendes Gewicht bei Kniebeugen, seit heute bei Klimmzügen. Weil Dich derzeit nichts mehr ärgert als Stillstand, frohlockst Du dabei.

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