Frühlingshaft (1) oder: Grundrechte sind kein Schönwetter­programm

Peter Kufner
  • Drucken

Jetzt ist in meinem Leben die erste echte Krise da und es dauert keine Woche, da sehe ich meine (ungarische) Kindheit wiederkommen, schreibt der Datenschutzexperte Nikolaus Forgó in diesem sehr persönlichen Gastkommentar.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

Ich bin 1968 geboren und habe einen Vater, der 1956 aus Ungarn geflüchtet ist. Meine frühen Kindheitserinnerungen, aus den 1970er Jahren, handeln von LKW-brechenden Schlagbäumen, Grenzpolizisten mit Maschinengewehren, den Anweisungen meiner Eltern, an der Grenze im Auto nur ja ruhig zu sitzen und nichts zu sagen, wenn wir irgendwas gefragt würden. Budapest grau, der Geruch nach Kohle in den Straßen, verfallende Häuser, vor allem aber das ständige Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, nichts Unbedachtes zu sagen, man weiß ja nie, der Vater ist nicht legal aus dem Land gegangen. Kindliche Zufallsbekanntschaften, bei denen ich eine Mischung aus Mitleid und Glückseligkeit empfand, weil ich ja, wenn nur nichts Unerwartetes geschah, wieder zurückkonnte, hinter den Schlagbaum, auf die andere Seite, in die Freiheit.

Nikolaus Forgó im Podcast

Der Wiener Datenschutzexperte und Universitätsprofessor Nikolaus Forgó ist auch zu Gast im „Presse“-Corona-Podcast. Er spricht mit  Anna Wallner über datenschutzrechtliche Bedenken der Corona-Apps, die unsere Bewegungen tracken sollen und die Sinnhaftigkeit von eilig gezimmerten Erlässen. Er sagt aber auch: "Juristisch ist diese Zeit extrem spannend - und man kommt viel zum Denken.

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in all den vergangenen Jahren in europäischer Selbstüberschätzung gelesen und gehört habe, die DSGVO sei ein Goldstandard des Grundrechtsschutzes in unserer digitalisierten Welt, der so wichtig sei, weil er Ausdruck des richtigen, des goldenen mittleren Wegs sei, zwischen der Skylla des amerikanischen „Everything goes“-Turbokapitalismus entfesselter Datenkraken einerseits und der Charybdis des chinesischen autoritär-suppressiven Überwachungsregimes andererseits. 100 Mal? 1000 Mal?

Der Autor

Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Forgó ist Vorstand des Instituts für Innovation und Digitalisierung im Recht an der Universität Wien und Expertenmitglied des Datenschutzrats.

Jetzt ist, in meinem Leben, die erste echte Krise da, die kaum jemand hat kommen sehen, und es dauert keine Woche, da sehe ich meine Kindheit wiederkommen. Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Handyüberwachungen. Big Data, Standorttracking, elektronische Fußfessel. Jeden Abend, wenn ich (kurz, ohne unnötige Aufenthalte, ich halte den Sicherheitsabstand) laufen gehe, beschleicht mich einerseits ein Gefühl der Dankbarkeit, das noch tun zu dürfen – wie lange noch? Einen Augenblick lang, andererseits, im Halbbewussten, bevor all meine über Jahrzehnte eingeübten Selbstberuhigungsmechanismen und Rationalisierungen einsetzen, überlege ich schon jetzt, jedes Mal, ob es (immer noch) klug ist, das Handy mitzunehmen. Man weiß ja nie.

Ich weiß nicht, ob und warum Maskentragen jetzt (plötzlich doch) sinnvoll ist; wie lange die Inkubationszeit ist; warum die Todesraten in Österreich so anders sind wie in den Niederlanden. Ich weiß nicht, ob diese Krise in drei Wochen vorbei ist oder in drei Jahren und ob sie überhaupt je vorbei sein wird. Ich lese, so wie alle anderen, ständig irgendwas von irgendwem, das in mir vor allem eins erzeugt: die Gewissheit, dass nichts gewiss ist.

Ich lese auch viel von möglichen digitalen Strategien gegen die Krise. Da lese ich, diesmal von Polen, nicht von Ungarn, es ist aber vielleicht bei dem, was man sonst so aus Ungarn liest, nur eine Frage der Zeit, bis es auch zu Ungarn solche Nachrichten geben wird, ich lese also von Polen:

„Im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus in Polen setzt das Digitalministerium auf eine Smartphone-App. Mithilfe der App werden Menschen geortet und aufgefordert, Selfies zu übermitteln. Bei Nichtbefolgung drohen hohe Strafen. […] Die App fordert die Nutzer mehrmals täglich unangekündigt auf, ein Selfie zu machen. Dafür bleibt den Nutzern 20 Minuten Zeit, um zu reagieren. Das Handy-Foto wird dann mit einem der ersten Bilder vom Quarantäneort abgeglichen, um zu überprüfen, ob sich der Nutzer am selben Ort befindet.“²

Kann das sein? In „meinem“ Europa? Die Antwort lautet aufs Erste: leider ja. In einem Beitrag auf orf.at[3] konnte man schon am 24. 3. lesen, die Kommission habe im Lichte von Corona (zutreffend) festgestellt, dass Abweichungen vom Verarbeitungsverbot sensibler personenbezogener Daten auf nationaler Ebene (also in jedem einzelnen Mitgliedsstaat und in jedem potentiell anders) getroffen werden können, wenn denn die öffentliche Gesundheit dies erfordert – oder der Staat behauptet, dass dies so wäre. Drohnen in Brüssel, Polizeibesuche in Italien oder Handyapps in Polen, ganz nach nationalem Gusto: Grundsätzlich geht das mal – nach jahrelanger Feier des einheitlichen Datenschutzstandards, der mit der DSGVO gekommen wäre.

Selbstverständlich muss jede derartige Maßnahme vor den nationalen und den europäischen Grundrechten Bestand haben. Freilich: Bis wir wissen, ob das der Fall ist, ist es zu spät, dann sind Jahre vergangen und die Krise hoffentlich vorbei, aber Grundrechte tausendfach, millionenfach verletzt.

Es ist meines Erachtens so gut wie sicher, dass eine massenhafte, personenbezogene, einwilligungslose Standortdatenüberwachung rechtswidrig ist. Darauf kommt es jetzt aber gar nicht an. In all der berechtigten Aufregung und Angst, zwischen all den Toten, die da sind und vielleicht noch kommen werden, zwischen der Gebotenheit des schnellen Handelns und der Unwiderruflichkeit wichtiger Entscheidungen, muss eines im Auge bleiben: Was immer getan wird, muss überhaupt geeignet sein, ein (legitimes) Ziel zu erreichen. Mir ist nicht bekannt, dass irgendwo gezeigt worden wäre, dass ausgerechnet Standortdatenüberwachung dieses Ziel erreicht – und gar besser als ein Mix aus Aufklärung!, Vernunft! und Polizei auf der Straße (oder mehr Masken, mehr Tests, mehr Arbeitnehmerschutz usw.).

Büchse der Pandora undifferenzierter Massenüberwachung

In der ersten echten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir alle gefordert, eines zu zeigen: Grundrechte sind kein Schönwetterprogramm, sie müssen gerade in der Krise Bestand haben und das gilt erst recht, wenn man, wie hier, die Büchse der Pandora einer undifferenzierten Massenüberwachung öffnen würde und diesen Geist nie wieder in die Flasche bekommen würde.

Diese Position bedeutet gerade nicht, dass wir aufhören müssen, Technologien zur Bekämpfung von Corona zu entwickeln. Ganz im Gegenteil, es gibt sehr begrüßenswerte Initiativen, etwa die des Roten Kreuzes oder die von NOVID20 (an der ich am Rande mitarbeite). Sie machen aber einige Grundaussagen zur Grundlage der Entwicklung, auf die nicht verzichtet werden kann: Kontrolle des Betroffenen über seine Daten, Transparenz, Informiertheit und Freiwilligkeit als grundlegende Maxime jedes technischen Tuns. Unsere Priorität muss sein, die fundamentalen Grundlagen unseres freiheitlich-rechtsstaatlichen Menschenbildes zu bewahren und dabei auf das zu setzen., was die Menschen in Europa seit der Aufklärung erfolgreich gemacht haben und sie auch gegen diese Krise bestehen wird lassen: das Vertrauen in Vernunft, Autonomie und freien Willen. All dies verlangt einen Schutz vor dem Staat, gerade in der Krise (die, das dürfen wir nicht vergessen, wie in Ungarn, auch Jahrzehnte dauern kann).

[1] Vgl. https://twitter.com/wurstzombie/status/1245655571472105478
[2] https://www.mimikama.at/allgemein/ja-polen-kontrolliert-quarantaene-mittels-einer-smartphone-app/
[3] https://orf.at/stories/3159213/

Nikolaus Forgó warnt vor unwiderbringlichen Einschränkungen der Grundrechte, gedeckt durch die Coronakrise.
Nikolaus Forgó warnt vor unwiderbringlichen Einschränkungen der Grundrechte, gedeckt durch die Coronakrise. (c) Rainer Schoditsch - http://schoditsch.com

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.