Gastkommentar

Nach Corona ist vor Corona: Vom gesellschaftlichen Umgang mit Risiken

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SALZBURG: CORONAVIRUS - SALZBURG WILL REGIONALE MASKENPRODUKTION ANKURBELNAPA/BARBARA GINDL
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Die Erfahrung lehrt: Einmal eingeführte Notstandsverordnungen werden nach dem Ende der Krise nicht unbedingt zurückgenommen.

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Eine Inkonsequenz wird uns länger beschäftigen als jede Konsequenz der Krise, nämlich die suggerierte Einzigartigkeit der aktuellen Pandemie. Die Herausforderung für die Zukunft ist eine doppelte: Einerseits müssen wir Vorkehrungen gegen weitere, womöglich noch gefährlichere Erreger treffen. Andererseits gilt es sich grundsätzlich darüber zu verständigen, welchen Risiken des Lebens wir kollektiv mit welchen Ressourcen entgegentreten wollen.

Österreich plant die „Wiederauferstehung“ nach Ostern, auch in Deutschland gibt es Anlass zur Hoffnung. Welche Folgen die Pandemie bei den medizinisch gerade nochmal Davongekommenen zeitigen wird, ist heute trotzdem ebenso wenig absehbar wie ihr weiterer Verlauf weltweit. Neuaufgenommene Schulden jedenfalls werden ebenso ihre Konsequenzen haben wie der alles andere als partnerschaftliche Umgang der Nationalstaaten mit der ersten wirklich globalen Krise des 21. Jahrhunderts, der droht ein neues Zeitalter des Protektionismus einzuläuten. Und dann ist da noch die Sache mit den Freiheits- und Grundrechten. Zurecht warnt der Soziologe Benjamin Bratton, alle “Formen von Messung und Modellbildung reflexhaft als ‹Überwachung› und aktive Steuerung als ‹soziale Kontrolle› zu deuten.”

Aber Reflexe sind wichtige Überlebensinstinkte, auch in der Behauptung über Jahrhunderte ertrotzter Bürgerrechte. Und Verordnungen, die diese einschränken, bleiben auch dann Verordnungen, die diese einschränken, wenn sie Leben retten. Zumal die Erfahrung lehrt: Einmal eingeführte Notstandsverordnungen werden nach dem Ende der Krise nicht unbedingt zurückgenommen. Big Data is watching out for you, lautet die neue Devise. Bewegungsprofile und Kreditkartennutzung machen mehr als nur Infektionswege transparent. Wenn man irgendwann solche Daten dann noch mit der Körpertemperatur vernetzt, die der Fitneß-Tracker aufzeichnet, ist die Live-Überwachung der „Volksgesundheit“ gesichert: alte Träume der Hygieniker aus den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, an deren Anfang die Spanische Grippe Abermillionen Tote forderte, und zugleich neue Albträume.

Das läuft auf die alte und doch nie veraltete Frage hinaus, wie unbedingt Freiheitsrechte noch gelten. Was noch als „verhältnismäßig“ gelten darf, wird absehbar auch die obersten Gerichte beschäftigen. Doch die noch entscheidendere Frage, die sich nach Corona stellt, könnte eine andere sein: nämlich diejenige danach, was der Staat leisten kann und leisten soll – und genau diese Frage hebt mit einer gewaltigen Inkonsequenz an. 9 Millionen Arztbesuche, 45.000 Krankenhauseinweisungen, 25.100 Tote in Deutschland, 2800 in Österreich: Zahlen nicht aus der Corona-Apokalypse, sondern aus der Realität der Grippe-Saison 2017/2018, die wir kaum als Krise begriffen haben. Niemand kam seinerzeit auch nur ansatzweise auf Ideen, die heuer plötzlich Verordnungs-Realität geworden sind und das gesellschaftliche Leben stillgelegt haben.

Gerade in akuten Bedrohungslagen ist das Streben nach Sicherheit verführerisch

Der vielbemühte Vergleich mit der Grippe hinkt zwar aus vielerlei Gründen – nicht aber, wenn wir uns nach Maximen fragen, die uns in einem Fall dazu brachten, das Land lahmzulegen, im anderen hingegen, kaum etwas zu unternehmen. Neuerdings scheint es einen Konsens der Maximaleindämmung zu geben, den die Regierungschefs auf beiden Seiten der Alpen benannt haben: „Aber alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren“, hieß es bei Angela Merkel. Mehr Staatsraison war nie, weniger indes auch nicht. So erfreulich es ist, daß die Exekutiven insgesamt ein überlegtes Krisenmanagement betreiben, so unerfreulich ist eine Leerstelle, die dringend der Diskussion bedarf. Denn gerade in akuten Bedrohungslagen ist das Streben nach Sicherheit verführerisch. Weil wir ein Risiko absolut setzen und oft vergessen, dass Risiken immer in Relation zu anderen gesetzt werden müssen - die Kosten ihrer Abwehr eingeschlossen. Was machen wir, wenn nicht der neue Corona-, sondern der alte Grippe-Erreger im nächsten Winter wieder seine Infektionsrunden dreht? Wir schließen die Altenheime ab tausend zu befürchtenden Toten, die Schulen ab fünftausend, den Einzelhandel ab zehntausend, die Gastronomie ab fünfzehntausend? Fundiert auf den Rat von Experten, die alles entpolitisieren?

Natürlich ist dieses Szenario absurd. Man kann es aber noch absurder machen. Zum Glück haben wir noch nicht verlernt, um jeden einzelnen Corona-Toten zu trauern. Trotzdem muß man beispielsweise fragen: Wenn wir aktuell Hunderte Milliarden gegen diese Infektionskrankheit aufwenden, wie halten wir es mit der Bekämpfung von Alkohol- und Tabakkonsum, die alljährlich Zehntausende Menschen das Leben kosten? Eine komplexe Gesellschaft wie die unsrige kann auf solche Aufrechnungen nicht verzichten: weil wir entscheiden müssen, welchen Risiken des Lebens wir kollektiv mit welchen Ressourcen entgegentreten; beides nämlich ist endlich. Genau deswegen muss über diese einzelnen Mittel diskutiert werden, genau wie über die Zwecke. Gerade jetzt ist nichts alternativlos, vor allem aber nichts folgenlos, politisch wie gesellschaftlich, wirtschaftlich wie kulturell.

Politische Führung erschöpft sich nicht im Regiment von Fallzahlen

Spätestens wenn Corona einmal ausgestanden ist, eigentlich schon vorher, gilt es den Blick über die Herausforderungen der aktuellen Pandemie hinaus zu weiten. Der Schutz vor spezifischen Risiken oder dessen Ausbleiben berührt die Verteilungsgerechtigkeit, für die Virologen keine Ansprechpartner sind; maximalen Schutz für alle kann der Staat nicht gewährleisten. Diese Notwendigkeit, Einzelmaßnahmen jenseits technischer Aspekte zu diskutieren, drohen wir gerade zu verlernen. Doch politische Führung erschöpft sich nicht im Regiment von Fallzahlen. Sie bedeutet vor allem: Vorschläge zu machen, welche Maximen wir uns setzen wollen. In Krisen-Zeiten, zuletzt war dies in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 zu beobachten, verschieben sich Machtverhältnisse und Aufmerksamkeit in Richtung der Exekutive. Damals wie heute sind unsere Erwartungen vernünftiger Problembewältigung, an Regierung und Exekutive gerichtet. Doch der “Selbststeuerungsmechanismus” (Michael Greven) einer demokratischen Gesellschaft ist die Politik, nicht die Exekutive. Ihr Alleinstellungsmerkmal besteht darin, über die technizistische Mittelabwägung hinaus zugleich die Zwecke ihres Handelns zu reflektieren - indem sie nicht nur Folgen, sondern auch Kriterien ihres Tuns transparent macht und zur Diskussion stellt. Das muß Demokratie leisten, denn sie allein kann es: im Unterschied zu Regieren als technokratischem, KI-gestützten Prozessmanagement. Darin hat sich ihr Vorzug gegenüber autoritären Systemen zu bewähren. In Krisenzeiten schlägt immer die Stunde der Exekutive. Danach muß die Stunde ihr schlagen.

Die Autoren

DDr. Georg Eckert ist Professor für Brandenburgisch-preußische Geschichte an der Universität Potsdam.

Dr. Leonard Novy ist Direktor am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik gGmbH

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