Der britische Premier wurde aus der Intensivstation entlassen. Es wird aber eine Weile dauern, bis er in sein Amt in der Downing Street zurückkehren kann. Das Land droht indes zum Hotspot in Europa zu werden.
Ein Aufatmen ging durch die Nation, als am Donnerstagabend die Eilmeldung von der Entlassung Boris Johnsons aus der Intensivstation des St. Thomas Hospital vis-a-vis vom Westminister-Parlament kam. Sie erreichte die Briten just zu dem Zeitpunkt, als sich viele gerade daranmachten, dem medizinischen Personal, wie jetzt jeden Donnerstagabend, im Zuge der Corona-Krise Applaus zu spenden.
Am Donnerstag der Vorwoche hatte Johnson selbst an der Aktion „clap for carers“ teilgenommen und war demonstrativ vor die Tür seines Amtssitzes getreten, ehe sich sein Zustand sukzessive verschlechterte und der 55-Jährige zum „englischen Patienten“ wurde, dem die größte Aufmerksamkeit unter den bald 80.000 Infizierten zuteil wurde.
Am Freitag machten die meisten Londoner Zeitungen mit dem vorläufig letzten Akt in der Boris-Johnson-Saga auf. Am prägnantesten war die „Sun“, das Boulevard-Blatt aus dem Hause Murdoch. „Boris is out“, lautete die Schlagzeile. Untertitel: „Good News on Good Friday.“ Good Friday bezeichnet den Karfreitag. Rundum war die Erleichterung im Regierungsviertel groß, bei Außenminister und Johnson-Stellvertreter Dominic Raab und Gesundheitsminister Matthew Hancock, der selbst am Coronavirus erkrankt war. Auch Keir Starmer, der neue Labour-Chef, zollte dem Premier seinen Tribut.
Bange Tage für die Verlobte
Und selbstverständlich atmete Carrie Symonds auf, die schwangere Verlobte Johnsons, die bange Tage erlebt und mitgefiebert hat, seit der Premier am Abend des Palmsonntags nach zehntägiger Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert wurde - und anderntags sicherheitshalber, wie es hieß, in die Intensivstation. Dort erhielt er Sauerstoff, wurde aber nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Die 32-jährige Symonds hatte selbst gerade erst das Covid-19-Virus überstanden, sie war aus dem Amtssitz im Regierungsviertel Whitehall ausgezogen.
So schnell ist allerdings nicht mit der Rückkehr Johnsons in die Downing Street zu rechnen. Über Ostern wird der Premier sicher noch unter medizinischer Aufsicht bleiben. Dies erklärte auch Stanley Johnson, der 79-jährige Vater, in einem BBC-Interview. „Er ist noch nicht über dem Berg. Er braucht Zeit. Ich kann nicht glauben, dass man das durchmachen kann und direkt wieder zurück in die Downing Street geht und die Zügel in die Hand nimmt, ohne eine Phase der Wiederanpassung."
NHS stößt an seine Grenzen
Johnson lobte denn auch die hervorragende Betreuung im St. Thomas Hospital und das ausgezehrte britische Gesundheitssystem NHS (National Health Service), das in der Coronakrise an seine Grenzen stößt. Er sei guter Dinge, heißt es über Johnson, sitze bereits aufrecht, sei aufgestanden und ein wenig herumspaziert und stehe in Kontakt mit den Ärzten und Krankenschwestern. So verbreitete dies zumindest der Vize-Gesundheitsminister.
Derweil steuert die Epidemie in Großbritannien auf ihren Höhepunkt zu. Das Land ist drauf und dran, die Schwelle von 10.000 Toten zu überschreiten. Zuletzt stieg die Zahl der Todesopfer binnen 24 Stunden auf mehr als 900 an. Die Zahl der Infizierten wird über Ostern womöglich die 100.000-Marke erreichen. Die Tendenz geht weiter nach oben. Während sich in Italien und Spanien leichte Entspannung abzeichnet, droht Großbritannien zum Hotspot der Pandemie in Europa zu werden. Ein Heer von 75.000 Freiwilligen steht bereit, in der Akutkrise dem überstrapazierten NHS-Personal zu assistieren.
Es ist klar, dass Kritik am Krisenmanagement der Regierung aufflammen wird, die zuerst auf die Strategie der „Herdenimmunität“ gesetzt hat, um schließlich doch das Steuer abrupt herumzureißen. Auch intern wurden bereits erste Vorwürfe laut über die „Macho-Kultur“ in der Johnson-Regierung. Der Premier hatte sich noch Anfang März gebrüstet, Covid-19-Patienten bei einer Stippvisite im Spital die Hand geschüttelt zu haben. Noch ist jedoch nicht die Zeit gekommen für die Stunde der Abrechnung. Nicht nur Boris Johnson genießt in der Rekonvaleszenz besonderen Schutz - es gilt auch für seine Regierung in der Zeit des nationalen Kraftakts.