Gastkommentar

Betretungsverordnung neu: Die verpasste Chance

Polizeikontrolle am Donaukanal in Wien
Polizeikontrolle am Donaukanal in Wien(c) APA/HANS KLAUS TECHT
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Das „Covid-19-Maßnahmengesetz“ ist verfassungswidrig, oder die darauf aufbauende Verordnung ist gesetzwidrig – oder beides. Die Einschränkungen der Grundrechte gehören mittlerweile jedenfalls sorgfältiger überdacht.

Sie ist also vertan, die Chance, die Verlängerung der „Betretungsverordnung“ zur Behebung ihrer grundlegenden Mängel zu nutzen und den Rechtsstaat mit den Notwendigkeiten der Krisenbekämpfung zu versöhnen. Trotz vieler – großteils wohlmeinender – Hinweise, hat der Gesundheitsminister die Geltung der „Verordnung gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes“ bis zum 30. April verlängert und die Mängel dabei noch verschärft. Diese VO verbietet ganz generell das Betreten öffentlicher Orte und definiert sechs Ausnahmen von dieser massiven Freiheitsbeschränkung. Seit Ostersamstag sind auch Organstrafverfügungen zulässig. Dem Wortlaut nach auch für Übertretungen, die es erst ab Osterdienstag gibt.

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Auch wohlmeinende Juristen, die der raschen und insgesamt im internationalen Vergleich sehr effizienten Risikoabwägung der Regierung Beifall zollen und sich bisher im Sinne einer Schonfrist für rasches Handeln zurückgehalten haben, sollten jetzt zum Schutz des Rechtsstaats notfalls spitzfindig werden. Dieser braucht den offenen und breiten Diskurs zum Überleben. In Deutschland ist er selbstverständlich. Führen wir ihn auch, wohlmeinend, ohne böse Absichten zu unterstellen, im Bewusstsein des hohen Rechtsstaatsniveaus im internationalen Vergleich! Es ist gleichgültig, ob Eile, Schlamperei, Absicht, oder eine Kombination davon den Rechtsstaat beschädigen. Das soll verhindert werden.

Grundrechtsbeschränkungen bis nahe der Suspendierung

Eine allgemeine Ausgangssperre mit wenigen Ausnahmen beschränkt mehrere Grundrechte bis nahe zur Suspendierung, vor allem die Rechte auf Freizügigkeit (Art. 4 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, StGG), Freiheit (Art. 5 Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, und Art. 1 BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit), Freizügigkeit und Aufenthalt (Art. 45 Europäische Grundrechtecharta, GRC), Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, und Art. 7 GRC), und die Versammlungsfreiheit (Art. 12 StGG, Art. 11 EMRK, Art. 12 GRC).

Beschränkungen dieser Rechte bedürfen erstens einer gesetzlichen Grundlage, welche zweitens die Beschränkungen hinreichend präzise eingrenzen und drittens verhältnismäßig ausgestalten muss. Das ist nur in Ansätzen geschehen. Aktuell ist entweder das Gesetz verfassungswidrig oder die Verordnung gesetzwidrig, oder beides, manches der darauf gegründeten Praxis mit großer Sicherheit rechtswidrig. Große Spitzfindigkeit braucht es nicht zur Entdeckung.

Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben

Kann eine Ausgangssperre angesichts der Gefahren des Corona-Virus verhältnismäßig sein, also einem im Öffentlichen Interesse gelegenen Ziel dienen, zu dessen Erreichung geeignet und gleichzeitig das gelindeste Mittel sein, also jenes, das die Freiheit am wenigsten einschränkt? Auch der spitzfindigste Jurist muss dem Gesetzgeber angesichts der konkreten Gefahr und des begrenzten Wissens um ihr Ausmaß breites Ermessen beim Schutz der Öffentlichen Gesundheit und des Gesundheitssystems (die Öffentlichen Interessen) zugestehen. Er darf seine Eigenwertung nicht über jene des demokratischen Gesetzgebers stellen. Also Ja, trotz des völlig beispiellosen Ausmaßes der Einschränkung der Freiheit ist das – mindestens grundsätzlich, ohne hier alle Facetten anzusprechen – in Ordnung! Den Staat trifft auch eine Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit, die zugunsten der Maßnahmen in die Waagschale fällt, auch soweit sie vorsorglich sind.

Freilich kann sich das rasch ändern, faktenabhängig. Was zunächst rechtens ist, kann mit zunehmendem Wissen und abnehmender Gefahr rasch unverhältnismäßig werden. Geheilte unter Hausarrest, oder mindestens unter Versammlungsverbot? Ausgangssperre für alle, wenn Mundschutz zur Reduktion der Reproduktionsrate <1 reicht? Verbot, sich auf Parkbänke zu setzen? Sperre der Staatsgrenze ohne Abwägung, was auf der anderen Seite gerade passiert? Denkverbote in der Risikobegrenzung, soweit Menschenleben auf dem Spiel stehen? Nein, zu allen Fragen! Sogar zur letzten. Tun wir, wenn wir über den Schutz vor Corona reden, nicht so, als hätten wir die drastische Abnahme der Verkehrstoten nicht bemerkt. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen nehmen wir im täglichen Leben Todesfälle in Kauf.

Auch hier kann und muss man sagen: die Regierung ist sich der Aufgabe bewusst und justiert nach. Das ist gelebte Verhältnismäßigkeit. Alles ist diskutabel, aber nicht alles Diskutable ist unverhältnismäßig.

Hingegen sind wir nicht davon überzeugt, dass unsere Verfassung allgemeine Freiheitsbeschränkungen zum Schutz vor einer gefährlichen Krankheit aktuell verbietet, in Ermangelung einer ausdrücklichen Erlaubnis im Verfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit (Alfred J. Noll am 30.3.). Das wäre genauer zu diskutieren. Zum einen fällt die Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens und der persönlichen Freiheit auch bei der Auslegung dieses Gesetzes und seiner Ausnahmebestimmungen ins Gewicht. Zum anderen ist eine von mehreren Ausnahmen durchbrochene Ausgangssperre keine Festnahme oder vergleichbare Beschränkung, wie sie dort im Vordergrund steht.

Rechtsstaat baut auf Gesetzmäßigkeit auf

Die gesetzliche Grundlage der Betretungsverordnung ist das COVID-19-Maßnahmengesetz. Es ist Teil des am 15. März im Bundesgesetzblatt kundgemachten COVID-19 Gesetzes, dem ersten von inzwischen fünf Sammelgesetzen, in denen insgesamt mehr als 30 Einzelgesetze erlassen bzw. geändert werden, für sich schon problematisch. Gemäß dem COVID-19-Maßnahmengesetz „kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist“. Der für die Interpretation erhebliche Initiativantrag der Abgeordneten Wöginger, Maurer ua verdeutlicht, dies könnten konkret oder abstrakt benannte Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Die am selben Tag kundgemachte Betretungsverordnung ordnet in § 1 jedoch an: „Zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten.“, und fügt in § 2 Ausnahmen an. Wenn die menschliche Sprache der Bedeutung Grenzen setzt, und darauf baut der Rechtsstaat auf, dann liegt hier eine Grenzüberschreitung vor: alle öffentlichen Orte sind mehr als bestimmte Orte. Die Verordnung dreht das vom Gesetz vorgesehene Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Erlaubnis (Regel) und Verbot (Ausnahme) um. Die Verordnung ist daher gesetzwidrig.

Ob das Gesetz selbst den Bestimmtheitserfordernissen für derart massive Grundrechtsbeschränkungen entspricht, oder ob es grundrechtskonformen interpretiert werden kann, ist wohl ebenfalls mehr als zweifelhaft. Seine lapidare Knappheit ist jedenfalls der Quell vieler Probleme, wie sie allgemein bei Unklarheiten typisch sind. Die Vorhersehbarkeit leidet, und es fehlt der Maßstab, an dem das Verhalten der Vollziehung sinnvoll gemessen werden könnte. Nirgends enthält das Gesetz Regelungen, wie man sich an den Orten verhalten muss, deren Betreten erlaubt ist. Aber genau das unternimmt die Verordnung, ohne dazu vom Gesetz ermächtigt zu sein. Die Verordnung enthält nicht nur die inzwischen sechs Ausnahmen Gefahrenabwehr, Hilfeleistung, Deckung notwendiger Grundbedürfnisse, Einkaufen und Inanspruchnahme von Dienstleistungen, berufliche Zwecke, und das (zweckbefreite) alleinige Betreten oder Betreten mit Haushaltsangehörigen oder Haustieren. Sondern sie ordnet teilweise auch an, wie wir uns dabei zu verhalten haben: 1 m Mindestabstand, neuerdings auch das Tragen von den Mund- und Nasenbereich gut abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtungen als Barriere gegen Tröpfcheninfektion, letzteres auch in öffentlichen Verkehrsmitteln und bei Fahrgemeinschaften.

Regelungen nicht unsinnig

Wie schon angedeutet: entweder das Gesetz trägt das, dann ist es zu unbestimmt und damit rechtswidrig. Oder das Gesetz trägt das nicht, weil es nämlich nur von Betretungsverboten für bestimmte Orte handelt und keine Anhaltspunkte für solche Verhaltensregeln enthält. Dann ist die Verordnung gesetzwidrig. Achtung: Das macht die Regelungen nicht unsinnig. Es fehlt aber das vom Parlament beschlossene Gesetz, das sie decken würde.

Noch einen Schritt weiter geht, wer – wie Teile der Bundesregierung und der Polizei – Gesetz und Verordnung ein Gebot entnimmt, nach dem Betreten öffentlicher Orte wieder dorthin zurückzukehren, wo man herkam: also nicht in eine andere Privatwohnung, wo vielleicht der Partner, die Kinder, die Großeltern wohnen. Einsteigen in den eigenen Pkw (der kein öffentlicher Ort ist) nur noch in der eigenen Garage? Wie will man denn das im COVID-19-Maßnahmengesetz verankern, grundrechtskonform?

Klassischer Willkürakt?

Schließlich gibt es die klassischen Willkürakte durch die Exekutive, wie das Abstrafen zweier im selben Haushalt lebender Personen, die ohne Mindestabstand auf einer Wiese oder einer Parkbank sitzen. Nirgends ist für eine Bestrafung dieses Verhaltens irgendeine Rechtsgrundlage ersichtlich. Hinter der Qualität solch behördlichen Einschreitens würde ein herzhaftes „Einspruch, Oida“ – nach LVwG-S-127/001-2016 ein gültiges Rechtsmittel sogar gegen eine Strafverfügung – nicht wesentlich zurückbleiben. Wir empfehlen dennoch eine andere Ausdrucksweise, und die Verweigerung der Bezahlung.

Die Regelungen sind nicht lächerlich, weder jene des Gesetzes noch die der Betretungsverordnung. Die Unbestimmtheit des Gesetzes provoziert Fehler, die lächerlich wären, wenn sie nicht mit € 3600 Strafe bewehrt wären. Begünstigt wird, neben Fehlern, leider auch Willkür, der größte Feind des Rechtsstaats.

Zurückgezogener Erlass vom 1. April

Erschreckend am „Aprilscherz“ – dem inzwischen zurückgezogenen Erlass vom 1. April, der Anweisung an die Bezirksverwaltungsbehörden, „sämtliche Zusammenkünfte in einem geschlossenen Raum, an denen mehr als fünf Personen teilnehmen, die nicht im selben Haushalt leben, ab Erhalt dieses Erlasses bis auf Weiteres zu untersagen“, ist nicht seine Unbedachtheit oder Verwirrung, sondern im Gegenteil: Seine Konsequenz. Hier hat jemand sorgfältig mitgedacht: Die Betretungsverordnung untersagt solche Treffen nicht. Da sie dennoch problematisch sind untersagt man sie per Erlass, nicht per Gesetz, nicht einmal per Rechtsverordnung. So schnell kann es gehen. Das war ganz sicher krass rechtswidrig. Das Resultat: der Erlass wird zurückgezogen, mit der Begründung, die (inzwischen verlängerte) Betretungsverordnung verbiete solche Versammlungen ohnedies. Wie bitte? Genau so etwas will unsere Verfassung vermeiden. Ein so tiefer Eingriff in das Grundrecht auf Privat- und Familienleben braucht eine klar formulierte gesetzliche Grundlage, die auch die Grenzen des Eingriffs präzisiert.

Wir sagen nicht, dass österliche Familientreffen sinnvoll oder ungefährlich sind. Wir sagen, dass es in unserem Land einen Unterschied zwischen politischen Empfehlungen und rechtlichen Verboten gibt, den wir nicht aufgeben sollten. Die rechtsverbindliche Umsetzung eines politischen Vorhabens, selbst wenn es „alternativlos“ wäre, ist, im Rechtsstaat Österreich, das demokratisch beschlossene Gesetz. Die EMRK garantiert das sogar im – hier glücklicherweise gar nicht eingetretenen – Fall eines Notstands, „der das Leben der Nation bedroht“.

Wir wünschen uns und allen, die in Österreich leben, dass die umsichtige Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung des Corona-Virus Erfolg hat und diese Maßnahmen, soweit sie Freiheitsbeschränkungen erfordern, ständig auf ihre Notwendigkeit überprüft und so rasch wie möglich beseitigt werden. Wir wünschen uns eine sorgfältig formulierte gesetzliche Grundlage für diese Maßnahmen, der die Balance zwischen wünschenswerter Flexibilität und Bestimmtheit gelingt.

App-Anwendung unter Druck ist nicht freiwillig

Letzteres gilt auch mit Blick auf die Zukunft der Rot-Kreuz-App oder Ähnlichem, in den nächsten Wochen: die Preisgabe aller Bewegungsdaten ist bitte nicht freiwillig, wenn dies die Voraussetzung dafür ist, sich in den öffentlichen Raum begeben zu dürfen. Zu-Hause-Bleiben als verordnete Alternative zur „freiwilligen“ Datenpreisgabe macht diese zum Grundrechtseingriff. Dafür braucht es eine sorgfältig abgewogene gesetzliche Grundlage, samt Reduktion des Datenzugriffs auf das absolute Minimum, und Kontrollen zur Vermeidung von Missbrauch. Gelebter Rechtsstaat macht Aufwand, aber er vermeidet unnötiges Leid und Willkür.

Schließlich: In diesen Tagen feiern die Nationalstaaten den nächsten unverdienten Triumph über die EU, der sie zuvor jede Zuständigkeit zum effizienten Krisenmanagement in Gesundheitsangelegenheiten (wie auch in der Flüchtlingsfrage) verwehrt haben, jede irgendwie relevante finanzielle Kapazität eingeschlossen. Nationale Zuständigkeit! Wenn die Finanzminister außerhalb des EU-Rechtsrahmens (!) über die Öffnung des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) streiten geben aber trotzdem nicht sie, sondern die EU ein schlechtes Bild ab. Wie bequem! Die gezielt machtlose EU liefert nicht, effizient sind nur die Staaten. Grenzen werden gesperrt, ohne die EU-Kommission lang zu fragen, zumindest bis sich 50 km lange Rückstaus im Inland bilden, weil der Nachbar auch nicht fragt.

Wenn das Gröbste überstanden ist denken wir bitte gemeinsam darüber nach, um wie viel effizienter eine gemeinsame Krisenbekämpfung im Rahmen der EU sein könnte, wenn diese mit ausreichenden Befugnissen und Mitteln ausgestattet wäre, und nicht nur lustvollem Bashing zur Selbstprofilierung dient. Europäische Solidarität könnte sogar gelebt und nicht nur am Ostersonntag beschworen werden.

Die Autoren

Jakob Griller ist Student der Rechtswissenschaften in Wien, Stefan Griller ist Professor für Europarecht an der Universität Salzburg.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2020)

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