Aus der modernen Dichtung ist der Reim gewichen, die Menschen lieben ihn dennoch mit rührender Hartnäckigkeit.
Familienfeste kann man derzeit nicht feiern. Die Menschen in meiner Umgebung haben aber herausgefunden, wie Freunde dennoch an Festtagen teilnehmen können: Zwar nur optisch, aber immerhin. Gehe ich einkaufen, sehe ich vor zwei Häusern beschriebene Leintücher. Auf ihnen stehen Geburtstagsgedichte. Eines beginnt so: „Der Maier Franz, genannt der ,Moar‘, der wird genau heut‘ fünfzig Joar . . .“ Dann folgen die gereimten Verdienste des Geburtstagskindes und schlussendlich ein Segenswunsch: „Der Herrgott soll ihm G'sundheit geben, dann wird er noch fünfz'g Jahr lang leben.“ Solche Gedichte verraten Sympathie und Kreativität. Der mundartliche Einschlag stört mich nicht, man findet ihn auch bei Berühmten. Goethe etwa reimte „Ach neige, du Schmerzensreiche?“ und sprach „neige“ wohl als „nei-che“ aus. Wilhelm Busch schrieb „Die Tante sprach zum Namenstag“ und sagte wohl „Namenstach“. Nestroy war sehr streng, wenn er meinte, dass der Dialekt der Tod der Dichtung sei: „Aber sie haben eine locale Mundart, und Localität zerstört jede Poesie. Amor war kein Stockerauer!“ Das kommt mir ungerecht vor, weit über Stockerau hinaus.
Der Reim ist aus der modernen Dichtung gewichen und, wie es scheint, ein abgesunkenes Kulturgut geworden. Die Menschen lieben ihn dennoch mit rührender Hartnäckigkeit. Sie bezahlen dafür sogar Inserate in Kleinformaten: „Geburtstag ist, wohl ohne Frage, einer uns'rer schönsten Tage. Jünger werden wir zwar nicht, Falten zieren das Gesicht, doch das Alter macht auch weise: Sie geht weiter, deine Reise!“