Glaubensfrage

Ob wir aus dem Erfahrenen lernen werden?

Gut möglich, dass alles wieder so wird wie vor Corona. Aber zumindest zum Innehalten reicht das Fremde der Situation allemal.

Sonntag. Sie wissen nichts, nichts über ihr Dasein, nichts über das Dasein anderer Daseinsformen: Das im letzten Moment torkelnd ausweichende Pfauenauge. Die unter der Sonne trillernde Lerche. Das pfeifend über den Weg trippelnde Ziesel. Den gemächlich im noch kahlen Feld hoppelnden Hasen.

Die Stadt streckt sich unbedarft dem Tag entgegen. Alles wirkt wie eh und je. Und doch, diese mittlerweile so vertraute wie verderbliche Daseinsform, dieses Virus existiert. Wer weiß wie lang schon. Nun nimmt es der Menschheit den Atem.

Wir werden isoliert. Gehen auf Distanz. Halten Abstand zueinander. Verzichten seit Wochen (unsinnig, sie zu zählen) auf so viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie Händedruck, Umarmung, Wangenkuss. Auf das Feiern des Geburtstags im größeren Familienkreis. Auf das gemeinsame Arbeiten an einem Ort mit (Schul-)Kollegen, auf Treffen mit Freunden, Omas, Opas. Wir müssen immer häufiger in den Augen Fremder zu lesen versuchen (welch hübsche Illusion neu Verliebter, das das funktioniert), die das halbe Gesicht verdecken.

Ob das bleibt? Wie sich unser Leben ändert, wenn es das ersehnte Medikament, wenn es den Impfstoff gibt? Gut möglich, dass alles wieder so wird wie vor Corona. Dass weniger geflogen, die Globalisierung der Wirtschaft auch nur vorsichtig zurückgenommen, mehr regional gekauft werden wird – wir wollen es nicht recht glauben.

Aber zumindest zum Innehalten reicht das Fremde der Situation allemal. Zum Nachschärfen, Justieren von unverrückbar erschienenen, gar nicht hinterfragten Positionen. Dabei sollte nichts zur Glaubensfrage stilisiert werden. Wie auch nicht die Frage, ob und wieweit gemeinsam in einer Kirche gefeierte Gottesdienste für das Glaubensleben unabdingbar sind. Gerade rund um Ostern wurde eine erstaunliche Vielfalt alternativer Möglichkeiten angeboten. Mit viel Engagement (und technischem Know-how) per Streaming übertragene liturgische Feiern, in besonders strebsamen Pfarren sogar mit dem Einspielen der von Lektorinnen extern vorgetragenen Lesungen, bleiben in Erinnerung. Anderes aus anderem Grund auch, wie der Priester, der sich mit der Monstranz durch Straßen bewegte.

Aber, werden theologische Autoritäten und selbst ernannte Religionspolizisten einwerfen, gehört  nicht das Dabeisein, das ganz reale, nicht über TV oder Internet oder Telefon, dazu. „Funktioniert“ so etwas Geheimnisvolles wie ein Sakrament ohne räumliches, wahrhaftiges Da-Sein? Andererseits: Ist Glaube tatsächlich nur möglich, wenn er in institutionell gelenkten und beschränkten Bahnen gelebt und „bewiesen“ wird?

Die von Regierung und Vernunft gebotene Distanz bleibt. Und die Distanz zum Leben der Vor-Corona-Zeit. Wäre zu schön, aus dem Erfahrenen Schlüsse zu ziehen. Zu schön, um wahr zu sein?

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2020)

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