Eurovision

Der Song Contest und die Welt der Dessous

Die Siegerband: Entrückt, selbstironisch.
Die Siegerband: Entrückt, selbstironisch.(c) Eurovision
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Coolness hat beim kleinen ESC gewonnen: Der Isländer Dadi Freyr und seine Gruppe Gagnamagnid hielten mit ihrem ironischen Lied „Think About Things“ dem Ansturm von Pathospop, Erotikdisco und Schnulze stand. Österreich wurde immerhin Tagessieger.

„Ja, ja, das geht schon eher in meine Richtung“, murmelte Ko-Kommentator Andi Ogris verschmitzt. Und wahrlich, die serbische Girlgroup Hurricane nahm die erotische Attacke mindestens so ernst wie die Musik. In „Hasta La Vista“ attackierten Stimmverfremdung und Haarextension, Strapse, Overknee-Stiefel, Korsage, Lack, Leder und nackte Haut die Sinne. Wäre die Musik nicht so auf ultramodern getrimmt, hätte sich wohl manch älterer Connaisseur an die legendäre polnische Reizwäscheshow erinnert gefühlt, die ein gewisser Don Claudio jahrelang im Wiener Rondell-Kino präsentiert hat. Und ja, die Welt der Dessous weist Parallelen mit dem ESC auf. In beiden Sphären mischen sich Verruchtheit und Bravheit auf neue Art. „Mjam, mjam, des hod an Sinn“, lobte Ogris.

Nur wenige Lieder später proklamierte Juror Alf Poier sein neues musikalisches Credo. „Jedes Lied braucht einen Höhepunkt!“, rief er verzückt aus und tadelte damit die seiner Ansicht nach matte Performance von Benny Cristo (Tschechien). Dabei war dessen an die frühen Neunziger erinnernder Dancefloortitel „Kemama“ reizvoll, weil in ihm das Technoide und das Gefühlige gut austariert waren. Das Lied lehnte sich, wie viele der 41 Titel, an bewährte Strukturen und Klangästhetiken an. Mit Neuem zu spielen, das ist beim ESC durchaus riskant.

Nasenflöte und Kehlkopfgesang

Allein, wenn es etwas nur „ein bisserl anders“ ist, hat es die Chance, von Jury und Publikum umarmt zu werden. Der faszinierende Beitrag der Ukraine, den die Folktronica-Band Go'A darbot, war für viele zu krass. Die Kombo verwöhnte mit Nasenflöte, Technobeats und sehnsuchtsvollem Kehlkopfgesang. Die schöne Metaphorik – eine unglückliche Liebende wandert endlos auf Blutbeeren, um ihren Geliebten Ivan zu treffen – erschloss sich wohl nicht jedem Hörer. Norbert Schneider jedenfalls nicht, einem heimischen Künstler, dessen Name für handwerklich gute, aber gnadenlos durchschnittliche Musik steht. „Sehr seltsam wirkt das auf mich“, raunte er.

Nerviger war es, wenn, wie bei Australien, Schrillheit mit Originalität verwechselt wurde. Jessica Alyssa Cerro sang unter dem hochtrabenden Signet Montaigne ihr Lied „Dont Break Me“. Blaue Haare, rote Tupfer auf den Wangen, Pierrotkragen dominierten ihre Erscheinung. Dazu ein kinetisches Kuddelmuddel, das jenseits aller Choreografie schien: Überreizung auf sämtlichen Ebenen.

Auch die Norwegerin Ulrikke und die Albanerin Arilena Ara, die als eine Art Lara Croft auftrat, präferierten das wenig Subtile. Erstaunlich dezent hingegen war der deutsche Beitrag. „Violent Thing“ des gebürtigen Slowenen Ben Dolic. Er bezirzte mit lockerem Groove und einer hochgepitchten, androgynen Stimmqualität. Selbiges galt für Österreich. Schmissiger Rhythmus, solider Gesang und gute Präsenz katapultierten Vincent Bueno zum Tagessieger. „Alive“ stand somit im Finale mit Malta und Island, den Tagessiegern von Dienstag und Donnerstag.

Beim anschließenden Televoting ging, wenig überraschend der ultracoole isländische Beitrag von Dadi & Gagnamagniđ als Sieger hervor. Ihr Video zum Ohrwurm „Think About Things“ klingt entrückt und selbstironisch. Sie hätten wohl den großen ESC auch gewonnen. Zu loben wäre auch der witzig moderierende Andi Knoll. So ein bisserl Eskapismus kann ein Segen sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2020)

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