Mein Freitag

Zu viel zu früh oder zu wenig zu spät?

Woche 6 bringt die Erkenntnis, dass es schwieriger ist, Zugeständnisse abzustufen als Verbote zu verhängen.

Wenn man jemandem fünfzehn Minuten mehr Bildschirmzeit zugesteht, warum nicht eine Stunde oder gleich den ganzen Tag? Wenn Cola mittags erlaubt ist, warum nicht um 20 Uhr? Und warum ist „ja, gleich“ eine Antwort, die Ältere Jüngeren geben dürfen, aber nicht umgekehrt?

Die Lockerungen im Corona-Alltag bringen viele Diskussionen mit sich: Den einen zu viel zu früh, den anderen zu spät zu wenig. Der Mensch ist recht formbar, hat einer der vielen Experten gesagt, und wird sich darauf einstellen können, dass er im Gasthaus Abstand halten muss. Aber was macht das mit uns? Man sieht eine ausgelassene Partyszene in einem Film und schreckt sich fast. Kein Abstand! Singen, tanzen, schreien, wie erschreckend weit ist das schon weg.

Vieles ist schneller wieder da, als man es sich gewünscht hat. Der Bimfahrer zeigt einem den Vogel, weil man recht unfähig einparkt. Die Polizisten kontrollieren nicht mehr, wer mit wem warum wohin geht, sondern ob die Radfahrer beim Stoppschild einen Fuß auf den Boden stellen. Ab Montag werden die Kurzparkzonen wieder kontrolliert. Ein Fest wird das.

Währenddessen ist die Absage des Oktoberfests eine Ernüchterung, obwohl es gar keine Einladung gegeben hat. Nun hat also niemand einen Tisch. Schriftsteller Friedich Ani meint dazu im Magazin der Süddeutschen Zeitung: „Die Wiesn mag ich am meisten, wenn ich nicht hinmuss, zu viele Menschen auf zu engem Raum. Aber mir vorzustellen, dass sie heuer nicht da ist, mag ich noch viel weniger.“

Vieles mag man sich nicht vorstellen, vor allem nicht, dass „vor Corona“ ein Synonym für Unwiederbringliches wird. Ein Frühling ohne klirrenden, wogenden Gastgarten im Schweizerhaus, das geht einmal, ausnahmsweise, aber hingehen werden wir. Wir prosten uns auf Abstand zu und kichern um so lauter.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2020)

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