Corona Briefing Tag 40

Die neue Streaming-Demokratie, die Kosten der Krise und mein Ende der Quarantäne

CORONAVIRUS: PK 'AKTUELLES'/ NEHAMMER / KOGLER / KURZ / ANSCHOBER
"Zu den Seltsamkeiten der momentanen Situation, an die man sich nach sechs Wochen immer weniger gewöhnen will, gehört das Regiertwerden via Livestream", schreibt Florian Asamer.APA/HELMUT FOHRINGER
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Wie so vielen reicht es mir ein wenig, ich finde die Video- und Telefonkonferenzen den lieben langen Tag ermüdend bis unecht.

Guten Morgen! Wissen Sie, dass es offenbar keinen eigenen Fachausdruck für absichtliches Verschlafen gibt? Zugegebenermaßen handelt es sich um einen Widerspruch in sich, für den es sehr wohl ein schönes Fremdwort gibt, die contradictio in adiecto. Entweder ich will zu einem bestimmten Zeitpunkt aufstehen oder nicht. Fehlt die konkrete Planung (Wecker und ähnliche Riten), will man nicht ernsthaft aufstehen. Und mit Vorsatz handelt es sich nicht um Verschlafen, sondern Schlafen. Daher ist die Entschuldigung für diese Verspätung, mit der ich schreibe, keine leichte. Michael Häupl würde mir raten, anzuführen es sei Freitag. Michael Fleischhacker könnte einflüstern, ich sei bei ihm in der Talk-in-St. Marx-Sendung gewesen und es sei spät geworden mit dem Corona-Task-Force-Renegaten. Ich könnte noch hinzufügen, dass ich davor glückliches Home Office in der Skype-Schaltung der Runde der CR auf ORF III leben musste. Aber ganz ehrlich: Ich wollte weder spätnachts noch früh schreiben. Jetzt habe ich auch noch eine großartige Ausrede, die Redaktionskonferenz in der Video-Schaltung zu schwänzen. Wie so vielen reicht es mir ein wenig, ich finde die Video- und Telefonkonferenzen den lieben langen Tag ermüdend bis unecht. Aber ein paar Tage geht das schon noch.

Heute ist der 40. Tag dieses Zustands und mein Kollege Florian Asamer hat einen jener Texte abgeliefert, die ich eigentlich gerne geschrieben hätte. Unter dem Titel „Den Rechtsstaat kann man nicht herunterfahren“ schreibt er, dass die Corona-Krise Defizite beim Verständnis der Gewaltenteilung offenlegt. Nicht nur bei der Bevölkerung, sondern vor allem bei der Regierung. Asamer: „Zu den Seltsamkeiten der momentanen Situation, an die man sich nach sechs Wochen immer weniger gewöhnen will, gehört das Regiertwerden via Livestream. In der ersten Phase der Corona-Krise konnte das noch als keep posted des Souveräns auf ansteckungsfreiem Weg verstanden werden (also Maßnahme beschlossen, sofort Bevölkerung über Gründe und Inhalt informiert), hat sich aber mittlerweile zu einer gefühlten Streaming-Monarchie entwickelt. Die Untertanen wissen nicht, wann sie wieder arbeiten gehen können, ob ihre Kinder wieder zur Schule gehen werden, aus welchem Grund sie vom Land ob der Enns ins Land unter der Enns reisen dürfen? Schon in der nächsten Pressekonferenz in ein paar Tagen wird man's ihnen sagen. Oder eben nicht. Der Mindestabstand zu Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten beträgt in der neuen Normalität offenbar deutlich mehr als einen Meter. (…)

Der Grund für die Entwicklungen der letzten Wochen (von zurückgenommenen Oster-Erlässen über unklare Verordnungen zur Ausgangsbeschränkung bis hin zu einem allgemeinen Kundgebungsverbot) liegt auch an einem in Österreich traditionell unterentwickelten demokratischen Rollenbewusstsein. Sebastian Kurz, Werner Kogler und ihre Minister sind nicht irgendwie die Chefs des Landes, sondern stehen an der Spitze der Vollziehung. Das ist und klingt weniger glamourös als die Chef-Sache, Exekutive, das andere Wort für Vollziehung, wird nicht zufällig als Synonym für die Polizei verwendet. (…)

Wahrscheinlich muss man gerade Mitten im herausfordernden Kampf gegen die Pandemie die Regierung noch einmal daran erinnern: Den Rechtsstaat kann man nicht herunterfahren. Auch nicht vorübergehend. Kurz und Co. sollten, was die Verfassung betrifft, die gleiche Übervorsicht walten lassen wie bei Covid-19: im Zweifel auf der sicheren Seite sein, gerade bei heiklen Maßnahmen keine nachträgliche Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof riskieren. Und etwa dafür sorgen, dass auch in Corona-Zeiten demonstriert werden kann. Durch die Pandemie kann nämlich nicht nur unsere Gesundheit dauerhaft Schaden nehmen.“

Ich schreib dann immer gerne: Punkt.

Statt des nächtlichen und frühen Schreibens konnte ich endlich wieder mehr Lesen. Die Titel des Buches behalte für mich, zwischen Angeberei und Peinlichkeit ist immer ein sehr schmaler Grat, das kennen Sie aus Talkshows und vielleicht auch aus eigener Erfahrung. Die Sätze, die ich in den vergangenen Wochen fast täglich gelesen habe, sind von Astrophysiker Norbert Frischauf vom Cern-Institut und werden über das Netzwerk der Teilnehmer des strategischen Führungslehrgangs im Auftrag der österreichischen Bundesregierung verteilt. Meist geht es um die Zahlen der Infizierten und den Status in Österreich, Europa und der Welt, er bietet einen guten Überblick über die aktuelle Lage, ohne die differenzierte Sicht vermissen zu lassen. Heute schreibt er über die Budgetsituation Österreichs und der meisten europäischen Länder 2020 und folgende.

Kollege Jakob Zirm schreibt dazu: Die Coronakrise sorgt laut Wifo nicht nur für die schärfste Rezession „seit Beginn der ökonomischen Aufzeichnungen“, sondern auch das höchste Budgetdefizit der Zweiten Republik. Laut Wifo-Mittelfristprognose wird Österreichs Wirtschaft heuer zumindest um 5,25 Prozent schrumpfen. Verschlechtert sich die internationale Entwicklung jedoch, sei auch ein Minus von 7,5 Prozent möglich.

Damit ist die durch das Coronavirus ausgelöste Rezession in jedem Fall schlimmer als jene infolge der Finanzkrise im Jahr 2009. Damals ging das BIP um 3,8 Prozent zurück. „Global gesehen ist es die größte Rezession, seit es makroökonomische Aufzeichnungen gibt“, sagt Josef Baumgartner vom Wifo anlässlich der Präsentation der Prognose. Es sei aber keine Rezession, die sich langsam aufbaut und die Schwächen der Wirtschaft aufzeigt, sondern quasi eine „Rezession per Dekret“, wie Wifo-Chef Christoph Badelt sagt. Daher spreche nach wie vor vieles dafür, dass es ab Herbst einzelne Nachholeffekte gibt. „2021 könnten wir dann in vielen Bereichen auch zu einer gewissen Normalität zurückkehren“, so Badelt. Im kommenden Jahr soll das BIP dadurch auch wieder um 3,5 Prozent wachsen. Bis das Niveau von Anfang 2020 erreicht wird, werde es aber wohl noch zumindest zwei Jahre dauern.

Zirm weiter: Konnte sich die Regierung für 2019 noch freuen, dass der Bund den ersten Budgetüberschuss seit 1954 geschafft hatte, setzt es heuer nun das höchste Defizit seit Beginn der Zweiten Republik. Auf zumindest 7,4 Prozent werde das Defizit ansteigen. Im pessimistischeren Szenario wird sogar ein Loch von zehn Prozent im Budget erwartet.

Frischauf argumentiert nun, dass die notwendigen Finanzspritzen in der EU für System und Banken in der Finanzkrise 2008/2009 größer gewesen wären.

„Wenn wir in der EU also jetzt von 540 Mrd. Euro zur Unterstützung von Arbeitsplätzen, Firmen und verschuldeten Staaten reden, dann ist das zwar eine Menge Geld, aber im Vergleich zur Finanzkrise klingt dieser Wert auch schon wieder fast wie ein Schnäppchen…“ Diesen Gedanken werden wir auf jeden Fall verfolgen – oder falsifizieren.

Gestern durfte ich auf Servus TV mit Martin Sprenger diskutieren, Arzt und sogenannter „Public-Health"-Experte.

Frischauf hatte dessen letzte Aussagen prägnant zusammengefasst, etwa zum schwedischen Weg in Österreich: „Sollten die Antikörpertests eine höhere Immunität zeigen, dann müsse man diskutieren, ob es auf Basis aller vorliegenden Fakten nicht sinnvoller wäre, auf einen kontrollierten Weg in Richtung Herdenimmunität zu setzen, also auf das, was nun als „schwedisches Modell“ bekannt ist – mit genau abgestimmten Maßnahmen. Das beinhalte Chancen und Risiken, die man abwägen müsse. Da die Infektion in Österreich unterschiedlich in Erscheinung getreten ist, wird es in Österreich einerseits Regionen geben, die einen sehr geringen Anteil an immunen Personen aufweisen, weil dort wirklich wenige Krankheitsfälle aufgetreten sind, und andererseits Regionen wie Tirol – selbst wenn die Herdenimmunität in Tirol auch nur bei 15 bis 20 Prozent liege. Denkt man diese Idee weiter, so könnte man das zu seinem Vorteil nutzen, indem man manche Maßnahmen bundesweit ausrollt und manche nur in einzelnen Bundesländern. Jedenfalls sollte man „wissensbasiert überlegen, welche Strategie uns mit weniger Kratzern durch die Pandemie führt“, und das „wird echt herausfordernd“. Der Monat Mai könnte so jedenfalls zum „Gamechanger“ werden.“

Wir/ich bleiben natürlich dran. Der Tag 40 ist auch ideal, um mich zu lockern. Die Fastenzeit dauert so lange, die Quarantäne sowieso, es ist die Zeit von Prüfung, Bewährung und leider auch Tod. Sie repräsentierte die Vollkommenheit. Oder so. Ab sofort werde ich wesentlich unregelmäßiger schreiben und mailen, mitunter einen Gast für ein paar Zeilen einladen. Ich hoffe, das geht in Ordnung für Sie. Sie können sich weiter darauf verlassen, ich bleibe, schreibe und zweifle.

Auf bald.

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