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Und Michael Jordan brüllte und brüllte

1992 Olympics: USA Men's National Basketball Team
1992 Olympics: USA Men's National Basketball TeamNBAE via Getty Images/Netflix
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„The Last Dance“ auf Netflix erzählt von Ehrgeiz und Verrat, Sportsgeist und taktischen Winkelzügen – und reiht sich ein in eine Liste herausragender Doku-Serien.

Das hätten wir uns vor ein paar Jahren wohl nicht träumen lassen: Dass wir uns einmal sieben Stunden lang vom Aufstieg und Fall des Bhagwan und seiner Sekte erzählen lassen würden, fieberhaft gespannt, ob es seiner rechten Hand, der intriganten Sheila, wohl gelingen wird, mit ihren orange-gewandeten Kumpanen die Wahlen in Wasco County zu gewinnen, indem sie Obdachlose aus anderen Bundesstaaten als Stimmvieh in die kleine Gemeinde verschleppt, in der die Sekte sich niedergelassen hat. Dass wir uns noch einmal mit O. J. Simpson auseinandersetzen würden, wozu wir uns freilich nur überreden ließen, weil Ezra Edelmans Doku über ihn eben nicht nur von Mord oder Totschlag handelt, sondern auch ein Porträt der Stadt Los Angeles mit allen Untiefen zeichnet. Oder dass wir, wie eben dieser Tage, uns abendelang in der Welt der Großkatzenhalter verlieren würden.

Epische Erzählung

„Wild, Wild Country“ (Netflix), „O. J. Simpson: Made in America“ oder die etwas allzu grob mit unserem Voyeurismus tändelnde Serie „Tiger King“ sind Beispiele eines neuen Booms an Dokumentationen; ein Boom, der nur möglich ist, weil die Zuseher in der Ära der Streamingdienste mehr Zeit aufzubringen bereit sind als früher. Und weil das Serienformat sich geöffnet hat: Statt kurze Häppchen für den Vorabend zu liefern, erprobten Regisseure epische Erzählweisen, wagten Experimente, hatten die Muße zur peniblen Charakterzeichnung – und Dokumentarfilmer taten und tun es ihnen gleich.

„The Last Dance“ ist das jüngste Beispiel für diesen Serien-Boom. Eine Doku, die von einer einzigen Saison der Chicago Bulls erzählt, und dabei doch die ganze Welt des Sports meint. Und nicht nur Michael Jordan in den Mittelpunkt stellt, sondern mit genauso viel Sorgfalt seine Freunde, Coaches und Kontrahenten porträtiert.

Fairness ist keine Kategorie

Etwa Scottie Pippen. Ein Spieler, der oft im Hintergrund wirkte, der Michael Jordan erst richtig glänzen ließ. Keiner, der ihn nicht in den höchsten Tönen priese, seinen Spielwitz, seine Intelligenz, seine Übersicht. Doch am Beginn seiner Karriere verpflichtete er sich für sieben Jahre und verkaufte sich dabei unter seinem Wert. 1997 gilt er als einer der besten Spieler der NBA – doch nimmt man sein Gehalt zu diesem Zeitpunkt als Maßstab, rangiert er gerade einmal auf Platz 122. Das kränkt ihn vor allem, als er nicht sicher sein kann, ob sein Vertrag verlängert wird. In einer dramatischen Dankesrede an seine Fans tut er seinen Unmut kund. Michael Jordan, darauf angesprochen, ist genervt. Egoistisch wird er Scottie Pippen später nennen. Die Regeln sind die Regeln. Hätte er besser verhandelt. Fairness ist keine Kategorie, wenn es um die Finanzen geht. Scottie Pippen verrät das Team, es zerbricht fast daran.

Eine Serie über das Altern

„The Last Dance“ ist auch eine Serie über das Altern. Über die Frage, wann es genug ist: Die Chicago Bulls haben fünfmal in Folge den Titel geholt, aber für das sechste Mal stehen die Chancen schlecht. Die meisten Spieler haben die besten Zeiten hinter sich, immer wieder fällt einer wegen Verletzungen aus. Und nicht nur Scottie Pippen ist auf den Manager des Klubs schlecht zu sprechen. Der will das Team neu aufstellen. Verjüngen. Der Titel der Serie, „The Last Dance“, ist auch das Motto, das der von allen respektierte Coach dieser neuralgischen Saison verpasst hat. Noch einmal gewinnen. Ein letztes Mal.

Natürlich kommt auch diese Serie nicht ohne Heldenverehrung aus. Wir sehen Siege, Siege und noch mehr Siege, einen strahlenden, kämpfenden, dann wieder blödelnden und Kaugummiblasen machenden Michael Jordan, jubelnde Fans, stolze Eltern, und doch auch die Schattenseiten. Der Rassismus der Nachbarschaft, der Wunsch, all dem zu entkommen. Der Ehrgeiz, der gut ist, solange er befriedigt werden kann, und jener, der zerstörerische Dimensionen annimmt. Als das Team zu verlieren beginnt, versucht Michael Jordan, es mit seinen Methoden anzustacheln. Es ist zum Fürchten. Er brüllt. Er erniedrigt. Er schüchtert ein. Kein Anführer, ein klassischer Bully. Er hat damit keinen Erfolg. Und brüllt noch mehr.

Erst, als Pippen wieder zurück ist, wendet sich das Blatt.

„The Last Dance“, derzeit auf Netflix, insgesamt zehn Folgen à 50 Minuten, zwei sind bereits verfügbar. Regie: Jason Hehir, Produzent: Michael Tollin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2020)

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