Interview

"Wir könnten den Binnenmarkt verlieren"

Italian PM Gentiloni Meets Turkish President Erdogan
Italian PM Gentiloni Meets Turkish President Erdogan(c) Corbis via Getty Images (Simona Granati - Corbis)
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EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni warnt gegenüber der „Presse am Sonntag“ vor dem Zerfall der Union, wenn Nord- und Südeuropa ihren weltanschaulichen Streit nicht beenden, um die Corona-Depression zu bekämpfen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte nach dem EU-Gipfel am Donnerstag: Das ist die größte Krise, welche die EU jemals hatte, und wenn sie keine Antwort findet, ist das ihr Ende. Teilen Sie diese Sicht?

Paolo Gentiloni: Ja. Diese Sorge ist echt. Wir haben in den vergangenen Wochen zwar einigen Fortschritt erzielt, um dieses Risiko zu vermeiden. Aber es ist noch immer da. Denn erstens ist das eine Krise von humanitären Ausmaßen, die wir gleichzeitig in allen Staaten so noch nie hatten. Wir sollten nicht vergessen, dass noch immer viele Menschen in unseren Spitälern um ihr Leben kämpfen. Die wirtschaftlichen Folgen sind extrem ernst. Das Risiko, dass die EU unfähig ist, ausreichend solidarisch zu sein, gefährdet das Überleben des europäischen Projekts – zumindest als ehrgeiziges Projekt. Dann könnten Populismus, Nationalismus und ein autoritärer Kapitalismus, der sich nun als das wirksamste Regierungsmodell präsentiert, die Oberhand gewinnen.

Macron verwies jüngst gegenüber der „Financial Times“ auch auf ein Grundproblem der EU, das die Lösung der Krise besonders erschwert. Es gebe zwei Lager: Die einen sähen die EU bloß als Binnenmarkt, die anderen als politisches Projekt. Wofür man sich entscheidet, hat weitreichende Folgen. Zu welchem Lager gehören Sie?

Ich bin folgender Meinung: Wenn wir nicht fähig sind, die politische Herausforderung des europäischen Projekts zu meistern, dann riskieren wir, auch den Markt zu verlieren. Ich bin nicht sicher, dass der Binnenmarkt mit seinen Regeln und Stärken, die er in den vergangenen rund 20 Jahren gewonnen hat, dann überleben wird, wenn es uns an der politischen Solidarität mangelt. Das ist die Herausforderung in den kommenden Monaten. Diese Krise ist kein Ergebnis bewusster Entscheidungen der Regierungen. Sie kann sehr unterschiedliche Folgen in den einzelnen Mitgliedstaaten erzeugen. Diese werden sehr schwer zu managen sein. Darum brauchen wir einen gemeinsamen Wiederaufbauplan als Antwort, um zu vermeiden, dass eine symmetrische Krise asymmetrische Folgen hat. Wenn die Divergenzen zwischen den Staaten, vor allem in der Eurozone, zu groß sind, wird das den Binnenmarkt enorm unter Druck bringen.

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