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Stadtluft macht frei? Dieses Vorurteil wird gerade widerlegt

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So idiotisch, wie Karl Marx glaubte, ist das Landleben nicht. Im Alltag der jetzigen Pandemie lösen sich alte Missverständnisse über Stadt und Land allmählich auf.

Stadtluft macht frei, hieß es einmal. Wien ist voll mit Leuten, die in jungen Jahren zugezogen waren, um zu studieren, um zu arbeiten, und um der Enge der Milieus zu entkommen, in denen sie aufgewachsen waren. Es galt als ausgemacht, dass die Stadt dem Lande überlegen sei.
Land – das hieß Familie, Tradition, Religion. Stadt – das hieß Aufklärung, Fortschritt, Unabhängigkeit. Die Linken bauten daraus eine Ideologie. Im „Kommunistischen Manifest“ (1848) rühmte Karl Marx den Kapitalismus unter anderem gerade deshalb, weil er die Massen „dem Idiotismus des Landlebens“ entrissen habe. Theodor W. Adorno beklagte 1966 in einem Vortrag, dass die „Entbarbarisierung auf dem flachen Lande noch weniger als sonstwo gelungen sei“. Er schlug daher vor, „mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen von Freiwilligen“ aus den Städten zu entsenden, um „in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht (...) die bedrohlichsten Lücken auszufüllen.“ Konservative Denker sahen das freilich ganz anders, unter ihnen der Anarchist Leo Tolstoi. Englische Schriftsteller beschrieben das Leben auf dem Lande aus allen denkbaren Perspektiven und haben es nicht selten romantisiert.

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Von Gilbert K. Chesterton stammt ein starker Einwand gegen das marxistische Stereotyp. Nicht das Land, sondern die Stadt begünstige den Idiotismus, sagte er, denn dort bewege man sich in Kreisen, denen man sich aus freien Stücken angeschlossen habe, weil sie die eigenen Vorlieben, Meinungen und Vorurteile teilten und bestärkten. Auf dem dünn besiedelten Land hingegen könne man sich diesen Luxus nicht leisten, man müsse sich auf Gesprächspartner einlassen, die konträre Meinungen vertraten. Das beuge vorzeitiger Verblödung vor.

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