Buchbesprechung

„Miracle Creek“: Die vielen Gesichter der Wahrheit

Angie Kim: Die amerikanische Autorin hat Jus studiert und war als Strafverteidigerin tätig.
Angie Kim: Die amerikanische Autorin hat Jus studiert und war als Strafverteidigerin tätig.(c) Tim Coburn
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Eine Frau, die sich für den Mord an ihrem Sohn verantworten muss: Angie Kim hat mit „Miracle Creek“ ein starkes Debüt vorgelegt, das viel mehr ist als nur ein spannender Justizthriller.

Miracle Submarine hat Mary es genannt, dieses riesige Ding, in das sich die Patienten hineinsetzen, um im Inneren mit reinem Sauerstoff versorgt zu werden. Ein Gerät, das aussieht wie ein U-Boot und Wunder vollbringen soll – bei Autismus, Behinderungen oder auch Unfruchtbarkeit. Unumstritten ist diese Überdrucktherapie (die es tatsächlich gibt) nicht – aber die Hoffnungen vieler verzweifelter Menschen sind groß. Und Marys Eltern, Pak und Young Yoo, die Einwanderer aus Südkorea, sind voller Zuversicht, mit ihrem Miracle Submarine endlich Geld zu verdienen.

Aber dann geht alles schief. Die hochexplosiven Sauerstofftanks fliegen in die Luft, der achtjährige Henry stirbt ebenso wie Kitty, eine fünffache Mutter, mehrere Menschen werden schwer verletzt. Und schnell ist klar: Das tödliche Feuer wurde gelegt, von Elizabeth, Henrys alleinerziehender Mutter, die ihren autistischen Sohn mit all seinen belastenden Besonderheiten nicht mehr ertragen hat.

Ein Jahr nach dem Feuer beginnt – und hier setzt auch Angie Kims Roman „Miracle Creek“ ein – der Prozess gegen Elizabeth: Die Anklage scheint eindeutig: Elizabeth hatte ein Motiv, die Gelegenheit und verhielt sich am Tag der Tat auffällig. Zum ersten Mal war sie nicht wie sonst mit ihrem Sohn im Sauerstofftank, sondern spazierte in den Wald, genau dorthin, wo das Feuer gelegt wurde.

Viele Geheimnisse

Auch einer der ersten Zeugen, Matt, den seine Frau mit ihrem fast besessenen Kinderwunsch zur Förderung der Fruchtbarkeit zur Sauerstofftherapie gezwungen hat, belastet die Angeklagte schwer. Aber schnell wird klar: Alles erzählt er vor den Geschworenen nicht. Auch Matt, der bei dem Feuer mehrere Finger verloren hat, hat etwas zu verbergen.

Was wie ein (hoch spannender) Gerichtsthriller beginnt, entwickelt sich schon nach wenigen Seiten, während der Einvernahmen der ersten Zeugen, zu einem wesentlich tiefgründigeren Roman, als man es nach Lektüre des Klappentextes vermutet hätte – zu einer Geschichte, in der es neben der Frage um Schuld und Unschuld noch um viele andere große Themen geht: um die Bedeutung von Familie, um die Überforderung mit der Betreuung autistischer und behinderter Kinder, um Einwanderer und deren unerfüllte Hoffnungen im neuen Land. Und um Geheimnisse, die man selbst seinem Ehepartner nie erzählen möchte und die dann, einmal ans Tageslicht gekommen, die Beziehung zu Bruch gehen lassen.

Die Gerichtstage geben dem Roman Struktur. Das Geschehen wird abwechselnd aus der Sicht von mehreren Zeugen und der Angeklagten erzählt, in Rückblenden werden ihre Leben und die Umstände, die zur Katastrophe von Miracle Creek geführt haben, nach und nach offengelegt.

Die Geschichte aus der Perspektive mehrerer Protagonisten zu schildern, ist eine beliebte Erzählweise – Autorin Angie Kim beherrscht sie in ihrem Debütroman gekonnt und lässt den Leser abwechselnd mit den Figuren sympathisieren, sie zwischendurch verachten und sogar die mutmaßliche Mörderin bemitleiden. Es sind starke Figuren mit vielen Schwächen: wie Teresa, die alle nur „Mutter Teresa“ nennen, weil sie sich so aufopfernd um ihre behinderte Tochter kümmert. Und die sich eingesteht, dass sie die Tage vor Gericht genießt, weil sie endlich einmal Zeit für sich selbst hat, ganz ohne ihr Kind.

Zwischen den Welten

Oder die jugendliche Mary, die ihre Eltern dafür verurteilt, dass sie nicht akzentfrei Englisch sprechen; die sich weder in der alten koreanischen noch in der neuen amerikanischen Welt aufgehoben fühlt. Zwischendurch bewundert und verachtet man als Leser auch Staatsanwalt und Verteidigerin, wie sie so skrupellos wie geschickt die Faktenlage verdrehen.

Dass die Erzählung so authentisch wirkt, so rund und so überzeugend, mag auch daran liegen, dass wohl viel Autobiografisches in den Roman geflossen ist: Autorin Kim hat selbst als Jugendliche mit ihren Eltern die Heimat Südkorea verlassen, in den USA Jus studiert und als Strafverteidigerin gearbeitet. Mit einem ihrer Söhne hat sie die Sauerstofftherapie in der Druckkammer durchgemacht. Die Autorin weiß also, wovon sie schreibt. Und das macht sie richtig gut.

(c) hanserblau

Neu Erschienen

Angie Kim
Miracle Creek

Übersetzt von Marieke Heimburger, hanserblau, 512 Seiten, 22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2020)

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