Die Coronakrise brachte einen starken Zuwachs von Plastikmüll mit sich. Erstaunlich, wie rasch ökologische Vorsätze verschwinden.
Wie sich die Zeiten ändern. Noch vor drei Monaten waren alle Medien voll mit Berichten über Plastikmüll und Mikroplastik in der Umwelt. Allerorts wurde ein Kampf gegen Kunststoffe geführt – Verbote von Sackerln und Strohhalmen inklusive. Und heute? Staunend vernahm man vor einigen Tagen in dieser Zeitung von OMV-Chef Rainer Seele, dass die Nachfrage nach Kunststoffen steige, denn Verbraucher würden – in Zeiten von Corona – „wieder mehr Wert auf hygienische Verpackungen legen“. Auch der Verband der Entsorgungsbetriebe VOEB vermeldete einen starken Zuwachs von Verpackungsmüll.
Es ist erstaunlich, wie rasch gute ökologische Vorsätze verschwinden bzw. verdrängt werden. Andererseits gibt es ja auch gute Gründe für die Verwendung von Kunststoffen. Diese seien „die Materialien des Anthropozäns“, stellt der Bochumer Kulturwissenschaftler Stefan Schweiger in seinem Buch „Plastik. Der große Irrtum“ (208 S., Riva Verlag, 20,90 €) fest. Er zitiert das Fraunhofer Institut „Umsicht“, laut dem es mehr als 15.000 verschiedene Kunststoffe gibt. Rund neun Milliarden Tonnen Plastik brachte der Mensch bisher in die Welt, beginnend mit der Patentierung von Bakelit 1907. In 37 Kapiteln erzählt Schweiger eine Geschichte der Kunststoffe vom hochwertigen Ersatz für Naturstoffe über das Material, das den Massenkonsum ermöglichte, bis hin zum heutigen Umweltdesaster. Wussten Sie etwa, dass Bakelit als Ersatzprodukt für Schellack gedacht war, der aus Ausscheidungen von Lackschildläusen hergestellt wurde? Und dass man für eine einzige Schallplatte – Veganer mögen bitte weghören – 300.000 Läuse brauchte?
Die Kunststoffe selbst können im Grunde nichts für ihren Ruf als Umweltzerstörer. Schuld ist vielmehr die Wegwerfmentalität, der wir heute unterliegen. Anders als im Großteil der Menschheitsgeschichte, als alle Materialien zu wertvoll zum Wegschmeißen waren, wurde im vergangenen Jahrhundert das „Wegwerfen zu einer ubiquitären Handlung“, schreibt der Berliner Technikhistoriker Wolfgang König in seiner „Geschichte der Wegwerfgesellschaft“ (168 S., Franz Steiner Verlag, 22,90 €). Wer hätte etwa gedacht, dass Kondome einst nach Gebrauch sorgfältig gewaschen und einige dutzend Mal wiederverwendet wurden? Selbst der heimliche Star der Coronaära reiht sich in die Einweg-Wegwerfmentalität ein: Allein zwischen 1950 und 1971 – also jener Zeit, in der sich die Konsumgesellschaft voll ausbildete – verzehnfachte sich der Pro-Kopf-Verbrauch von Toilettenpapier . . .
Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2020)