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"All Day and a Night": Die Schwerkraft des Ghettos

Im Knast trifft Jah (Ashton Sanders) seinen Vater (Jeffrey Wright), der ebenfalls wegen Mordes einsitzt.
Im Knast trifft Jah (Ashton Sanders) seinen Vater (Jeffrey Wright), der ebenfalls wegen Mordes einsitzt.Netflix / Matt Kennedy
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Wie wird ein junger Afroamerikaner zum dumpfen Killer? Die düstere Milieustudie „All Day and a Night“ erinnert an die 1990er und erzählt von stagnierenden Missständen.

All Day and a Night“, also jeden Tag und jede Nacht, hat Jahkor Zeit, um über sein Leben nachzudenken. Ein Künftiges ist nicht in Sicht: Der junge Mann sitzt wegen Doppelmordes im Gefängnis. An seiner Schuld besteht kein Zweifel: Eingangs sehen wir, wie er in eine Wohnung einbricht und ein Paar niederschießt, kaltblütig, vor den Augen der Tochter. Warum? Schreit eine Angehörige vor Gericht. Jahkor schweigt, weil er die Antwort nicht kennt.

„All Day and a Night“ – seit Freitag auf Netflix – versucht, sie zu finden. Und fächert dabei ein Panorama alltäglicher Gewalt und sozialer Verwahrlosung auf. Schauplatz ist die kalifornische Stadt Oakland, berüchtigt für ihre hohe Kriminalitätsrate. Hinter Gittern erinnert sich Jahkor an die Kindheit im Hexenkessel, seine Erzählstimme liefert den abgehärmten Kommentar.

Ein Schlüsselsatz: „Die Sklaverei hat Schwarzen Überleben beigebracht, aber nicht, wie man lebt – und das geben wir einander weiter.“ Früh lernt der kleine Jah, was Sache ist, zumindest in den Augen seines Vaters J.D. (Jeffrey Wright). Als ihm am Pausenhof Spielzeug geraubt wird, setzt es zuhause Prügel. Damit der Sohn checkt, dass die Welt kein Pardon kennt. Er nimmt sich die Lektion zu Herzen. Und schlägt bald selbst zu.

Nur Rapmusik verheißt einen Ausweg

Der 24-jährige Ashton Sanders, bekannt aus Barry Jenkins' Oscarfilm „Moonlight“, verleiht der Hauptfigur starke Ausstrahlung: Charakter liegt in seiner körnigen Stimme, argwöhnische Augen lugen aus geduckter Deckung, dumpfes Brüten zügelt Schmerz und Aggression. Eigentlich, meint Jah, steckte er schon immer im Gefängnis. Wo Tod und Verbrechen zum Hintergrundrauschen verkommen, gibt es kaum Chancen, kaum Zukunft. Der Jobmarkt interessiert sich nicht für Ghettokinder, nur Rapmusik verheißt einen Ausweg. Als Jah seine Songs vorspielt, flackert kurz Leidenschaft auf. Doch der Produzent und Drogendealer winkt ab: So etwas gibt's wie Sand am Meer.

Es kommt also – so die gleichermaßen fatalistische wie gesellschaftskritische These des Films –, wie es kommen muss. Im Knast trifft Jah seinen Vater, auch er sitzt wegen Mordes ein. Hier kommen sich die beiden erstmals näher, vom Leben gezeichnet und klüger gemacht. Draußen wartet Jahs eigener Sohn: Ob es ihm anders ergehen wird?

„All Day and a Night“ ist die zweite Regiearbeit von Joe Robert Cole, der zuvor am Sensationserfolg „Black Panther“ mitgeschrieben hat. Sie wirkt wie die herbe Kehrseite des afrofuturistischen Marvel-Blockbusters. Zwar bringt Cole Verständnis für seine Protagonisten auf. Doch er nimmt sie nicht aus der Verantwortung, verklärt nichts. Die Brutalität seiner Figuren fällt hier mit der ihres Umfelds in eins. Beiläufige Episoden erzählen von unsichtbaren Mauern zwischen sozialen Wirklichkeiten: Als Jah in einem Schuhgeschäft Anstellung findet, trauen sich die weißen Kunden nicht, ihn anzusprechen.

All das erinnert an die Milieuporträts des „New Black Cinema“, schwankt zwischen dem Moralismus von „Boyz n the Hood“ und dem Nihilismus von „Menace II Society“. Dass Coles Film auch in den frühen 1990ern spielen könnte, zeugt davon, wie wenig sich verändert hat. Nur die Stimmung ist anders: Statt Zorn und Verzweiflung herrscht Depression. Wie im Hip-Hop, wo die wütenden Tiraden von Public Enemy und N.W.A. den gequälten Monologen von Vince Staples und XXXTentacion gewichen sind. Mit seiner trägen, tranceartigen Ästhetik und verschachtelten Struktur liefert „All Day and a Night“ ein markantes Äquivalent zum Emo-Rap der Gegenwart. Dessen Blütezeit ist angesichts pandemischer Ungleichheit – Corona trifft die schwarze Bevölkerung der USA besonders hart – wohl noch lange nicht vorbei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2020)

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