Quergeschrieben

Frühjahr 1945: Hoffen auf die Amerikaner – Angst vor den Russen

Das Kriegsende war nicht nur von Freude, sondern auch von Angst geprägt. Die Nachwirkungen sind bis heute erkennbar.

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Frau N. ist 91 Jahre alt. Jeden Abend lässt sie alle Rollbalken ihres Hauses herunter, legt Sicherheitsketten vor, sperrt die Zimmertüren im Erdgeschoß ab, auch die Gittertür, die sie sich zum Zimmer Richtung Garten hat einbauen lassen. Neben ihr Bett legt sie griffbereit das Telefon, da sich der Anschluss des Festnetzes im Erdgeschoß befindet. Auch untertags sind im Haus die Türen zum Keller und zu den nicht benutzten Zimmern stets verschlossen. Sie hat nie geheiratet. Frau N. wohnt mit Verwandten zusammen, die sie über Nacht nicht allein lassen können. Sie lebt in ständiger Angst vor Eindringlingen, ihr Leben lang.

An das Kriegsende, das Jahr 1945, kann sich Frau N. noch sehr gut erinnern. Sie war damals ein Teenager. Ihr Dorf in Niederösterreich lag in einem heftig umkämpften Gebiet mit wichtiger Infrastruktur in der Nähe. Ständig heulte der Fliegeralarm. Im Frühjahr wurden die Kämpfe immer heftiger, im Wald hatten sich versprengte SS-Angehörige in ihren letzten Gefechten verschanzt. Ende April hieß es, der Krieg sei aus – endlich! Welche Freude! Keine Bomben, keine Todesangst, kein Flüchten in den Keller mehr. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Den anrückenden Russen, die den Osten Österreichs befreiten, eilte ein besonderer Ruf voraus: Sie hätten es auf Frauen und Mädchen abgesehen, auf ihrem Weg bereits zahlreiche vergewaltigt. Die besorgten Dorfbewohner fassten daher einen Entschluss: Alle jungen Frauen und Mädchen des Ortes wurden im Dachboden eines Hauses eingeschlossen und der Eingang bis auf eine kleine Öffnung zugemauert. So konnten sie versorgt und gleichzeitig geschützt werden. Die Russen kamen, etliche quartierten sich im Ort ein, und blieben einige Wochen. So lange mussten die Eingeschlossenen ausharren, in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Eine von ihnen war Frau N.

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