Digitalisierung: Warnung vor bloßen 1:1-Transfers aus dem Analogen

(c) MGO (Marin Goleminov)
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Dem Standbild fehlt jeder FortschrittVeränderung. Der Druck, Organisationen zu digitalisieren, ist enorm. Ad-hoc-Lösungen sind besser, als gar nichts zu tun. Dennoch: Eine Warnung vor bloßen 1:1-Transfers aus dem Analogen.

Der Druck ist enorm: In vielen Unternehmen herrsche das Gefühl, „in digitale Lösungen hineingehen zu müssen. Und sie übersetzen ihre analogen Prozesse 1:1“, sagt Jan A. Poczynek. Damit könne man manches lösen, doch vieles nicht nachhaltig, meint der Organisationsberater. In der aktuellen Situation sei es gut, „Dinge wie Videokonferenzen oder Home-Office schnell zu probieren. Doch Ad-hoc-Lösungen sind meist gut für den Moment, selten aber für den Dauereinsatz.“

Poczynek stellt eine provokante Frage: „Warum tapezieren wir nicht Plakate auf TV-Bildschirme?“ Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen, denn als das Bewegtbild aufkam, wurden die ersten Werbungen im Kino in der Logik von Plakaten als Standbild ausgespielt. „Auf Basis der bestehenden Kompetenzen war das schlüssig“, sagt Poczynek. „Man musste das Printsujet nur mit einer Kamera ablichten.“ Das Potenzial des neuen Mediums wurde aus heutiger Sicht nicht ausgeschöpft. „Ähnlich sehen wir heute in der digitalen Welt viele Möglichkeiten nicht, wenn Fantasie oder Kompetenz fehlen.“

Amazon Go muss man nicht mögen, aber man kann viel davon lernen

Bei jeder Organisationsentwicklung müsse man die zentrale Frage stellen: Welches Problem soll gelöst werden? Sie verlange die Dekonstruktion der bisherigen Lösungsprozesse. „Sie kommt aktuell viel zu kurz, weil wir unter Druck sind. Aber: Auch vor zwei Monaten hat es ähnlich ausgesehen, dass Lösungen einfach 1:1 digitalisiert wurden.“ Poczynek nennt zwei Beispiele: Erstens Videokonferenzen. Hier gehe es darum, räumlich getrennt etwas miteinander zu besprechen oder zu entwickeln. „Wer sagt, dass die Kommunikation im Meetingraum optimal war? Aber wir transferieren das in die Online-Welt.“ Zweitens Einkauf im Supermarkt. Mit der Selbstbedienungskassa, an der Kunden die Produkte selbst über den Scanner ziehen müssen, wurde die Kassenkraft digitalisiert. Amazon Go müsse man zugestehen, das Problem „Kunde will Ware aus dem Geschäft“ dekonstruiert und neu gelöst zu haben. Man nimmt die Produkte aus dem Regal, verlässt das Geschäft und bekommt den Beleg der automatischen Abbuchung aufs Mobiltelefon – ganz ohne Kassa.

Dekonstruktion ist eine Gefahr

Was einfach klingt, bereitet in der Praxis Schwierigkeiten. „Organisationen sind dafür gebaut, routiniert Entscheidungen zu treffen, Produkte und Services zu liefern. Alles, was aus der Routine ausbricht, ist eine Gefährdung der bestehenden Organisation.“ Das gelinge nur Organisationen, die Experimentierfreude fördern (Ressourcen bereitstellen) und ermöglichen (Legitimation geben, es zu tun, wissend, dass der Erfolg ungewiss ist).

Daneben seien Mut, Zeit und unter Umständen große Investitionen nötig. Um zu erkennen, ob eine Veränderung radikal oder nur ein Halbschritt sei, brauche es Selbstkritik und den Blick auf die Frage: Was sind die Kompetenzen, mit denen wir gewöhnlich arbeiten, und was sind die neuen? Eine Durchschnittsbetrachtung heimischer Organisationen zeige Kompetenzmängel bei digitalen bzw. disruptiven Technologien, im Umgang mit neuen Medien und dabei, Unterschiedliches zu kombinieren. Als Beispiel nennt Poczynek das Wissen um User Experience und Wahrnehmungspsychologie.

Helfen könne „hyper awareness“, noch stärker als gewohnt auf Entwicklungen außerhalb des eigenen Fachbereichs zu schauen. „Um mit Themen in Kontakt zu kommen, die vielleicht in zwei, drei Jahren relevant sind.“ Und eben nicht in die Falle von schnellen 1:1-Transfers zu tappen.

Zur Person

Jan A. Poczynek ist Co-Founder von NowEvolve – für die Entwicklung von Innovation, Digitali-sierung und New Leadership. Er rät, in allen Transformationsprozessen die Frage zu stellen: Welches Problem soll gelöst werden? und die bisherigen Prozesse zu dekonstruieren, ehe eine neue Lösung gefunden werde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2020)

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