Culture Clash

Radikaler Wandel jetzt?

An alle Freunde des großen Umdenkens: Die Welt braucht jetzt weniger das ganz Neue als die Erneuerung unserer alten Leistungsfähigkeit. Sonst sterben noch viel mehr.

Diese Woche haben 200 Personen von Madonna bis Robert de Niro in „Le Monde“ einen Aufruf mit dem Titel veröffentlicht: „Nein zu einer Rückkehr in die Normalität“. Corona biete die Chance, sich existenziellen Fragen zu stellen: Der Konsumismus verleugne das Leben „der Pflanzen, der Tiere und vieler Menschen“. Es brauche dringend einen „radikalen Wandel“, eine „tiefgreifende Neufassung der Ziele, der Werte und der Ökonomien“. Der Aufruf geht von der Schauspielerin Juliette Binoche und dem Astrophysiker Aurélien Barrau aus. Sie haben ihn schon einmal veröffentlicht, 2018, mit etwas anderen Worten und denselben 200 Unterzeichnern.

Von den Leitern von 20 Jesuitenprovinzen gab es am Freitag einen weniger plakativen, mich aber auch nicht überzeugenden Aufruf. Der Satz: „Wir haben in diesen Wochen gelernt, dass wir auf einem kranken Planeten nicht gesund leben können“, ist so schmissig wie unsachlich, Krankheiten sind doch seit jeher Faktum auf diesem Planeten. Der Text fordert ein „Hinarbeiten auf einen radikalen Wandel“. Es gehe um „wirksame Solidarität“, etwa um „eine gewisse Umverteilung des Reichtums von den reicheren zu den ärmeren Ländern“. Nach 75 Jahren Geldtransfers von reichen zu ärmeren Ländern hielte ich hier weniger den radikalen Wandel als konkrete Verbesserungsvorschläge für hilfreich.

Was die Coronapandemie und die ihr folgende Wirtschaftskrise jetzt wirklich verlangen, scheint mir nicht das fundamental Neue zu sein, sondern jener Ethos der Achtsamkeit und Solidarität, den wir schon haben und der in diesen Wochen auf vielfache Weise zum Ausdruck kommt. Die Caritas sagt, dass sich die Zahl der vom Hungertod bedrohten Menschen auf 230 Millionen verdoppelt hat. Sie brauchen schnelle, konkrete Hilfe. In Europa muss die soziale Marktwirtschaft, das Erfolgsmodell der Integration seit 1945, heute viele Millionen Menschen vor dem Absinken in das Prekariat bewahren.

Ich bezweifle, dass eine nebulöse Neue Welt mit radikal anderen Zielen, Werten und Ökonomien zu alldem besser in der Lage wäre als das, was wir haben. Die Chance, das Gute besser zu machen, gibt es immer und muss auch genützt werden, Schritt für Schritt. Es ist auch gut, wenn mehr Menschen erkennen, dass das Lebensglück nicht im Konsumieren liegt. Aber dazu helfen Aufrufe zum Umdenken nichts, sondern nur die Erfahrung, dass es etwas Schöneres gibt als das Einkaufen. Wenn die jetzige Epidemie, die zigtausendste auf diesem immer schon kranken Planeten, dabei hilft, ist es gut. Auch wenn sie nicht der große Game-Changer sein wird.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2020)

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