Sommer des bilateralen Taktierens: Wer öffnet wann? Wer lässt wen wohin?
Dieser Reisepass gilt für alle Staaten der Welt", steht in EU-Pässen.
Gegenwärtig ist dieses etwas großspurige Versprechen auf einen einzigen Staat geschrumpft. Keiner weiß, ob die Welt für die reiseprivilegierten EU-Bürger je wieder so zugänglich sein wird wie zuvor. Der Öffnungsprozess scheint deutlich komplexer als jener des Zusperrens im März 2020, als uns der freie Personenverkehr vor den Augen zerbröselte.
In Ministerien, unter Experten, auf Meinungsseiten und in den sozialen Medien verlaufen Europas Mentalitätsgrenzen heute weniger entlang politischer Lager als entlang psychischer Grundkonstellationen. Hat unsere Freiheit Priorität? Oder das Überleben von Gefährdeten? Vermutlich waren April und Mai 2020 die Monate mit den höchsten statistischen Facebook-Entfreundungsraten aller Zeiten. Das "schwedische Modell" der Coronabekämpfung könnte zum
Beispiel hundertmal gescheitert sein, seine freiheitsberauschten Ich-AG-Anhänger aus dem linken und rechtsextremen Spektrum würden dessen Opferbilanz trotzdem schönreden. Schade nur, dass sie Schweden lang nicht besuchen werden.
Trotz der einsetzenden Weltwirtschaftskrise bin ich optimistisch. Grenzenloses Wachstum war ohnehin immer Fiktion, vor allem das der Reisebranche. Eine Neuorientierung könnte den Schwerpunkt von Billigflügen, Kreuzfahrten und Hüttengaudi auf individuellere, ressourcenschonendere Urlaubsvergnügen verlegen. Zunächst stehen wir allerdings einem Sommer bilateraler Abkommen mit Ungewissheiten gegenüber: Wer öffnet wann? Wer lässt wen wohin? Österreich braucht bitte sehr seine Deutschen! Die Tschechen pochen auf ihre allerbeste Coronabilanz! Griechenland und Kroatien möchten zahlungskräftige Nordvölker, Sardinien und Mallorca detto! Sogar die Karikatur des rechtsextremen Politikers darf vielleicht wieder nach Ibiza! Die Schweiz bietet sich jedermann an, doch einzig das überinfizierte Frankreich zeigt ihr seine warme Schulter! Auf uns kommt ein grausig-trockener Sommer ohne EU-Solidarität zu. Leider auch einer mit punktuellem regionalem Massentourismus.
(Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 15.05.2020)