Am Herd

Verschwörungstheorien

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Marlene und ich stellten uns an. Setzten unsere Masken auf. Hielten Abstand. „Sie haben wohl Angst, dass ich Sie vergifte!“, rief der Mann vor uns.

Marlene und ich waren Pizza holen. Es hatte den ganzen Tag über immer wieder geregnet, die Gehsteige glänzten noch, hin und wieder fuhr ein Auto durch eine Pfütze, aber jetzt gerade machten die Wolken Pause. Wir schlenderten die Straße entlang, fanden in diesem Schaufenster eine hübsche Schreibtischlampe, in jenem verführerisch rote Sandalen, wir wussten, wir könnten, wenn wir denn wollten, in den Laden hineinspazieren und etwas kaufen. Allein diese Aussicht machte uns froh. Es war ein heiterer Spaziergang durch eine Stadt, die sich vorsichtig der Normalität öffnet, wo Wirte wieder die Tische vor die Tür stellen, Kinder langsam die Beserlparks zurückerobern und Menschen auf der Straße Eis schlecken, selbst wenn es regnet, selbst wenn es abgekühlt hatte, einfach weil es möglich ist.

Und dann hatten wir auch noch Glück. Keine Schlange vor dem Lokal! Nur ein einziger Kunde wartete auf seinen Pizzakarton, ein älterer Herr mit Hornbrille und kurz geschorenem Haar. Marlene und ich stellten uns an. Setzten unsere Masken auf. Hielten Abstand. Auch dann, als der Mann schon bezahlt hatte und umständlich seine Geldtasche im Rucksack verstaute. „Sie sind dran“, rief er. Und als ich immer noch nicht näher kommen wollte, schob er nach: „Sie haben wohl Angst, dass ich Sie vergifte!“ Gehässig sagte er das, als hätte ich ihn mit meiner Vorsicht beleidigt, als sei ich der Feind, der ihn am unbeschwerten Leben hindert, und nicht ein Virus, an dessen Gefahr er nicht glaubte: „Alles übertrieben“, erklärte er noch im Weggehen. „Total übertrieben! Es sterben nur Leute, die über 80 sind!“

Erst da fiel mir auf, dass er keine Maske trug.

Verschwörungstheorien. Der Heimweg war nicht ganz so unbeschwert. Wir redeten über Sido, den deutschen Rapper, dessen Lieder wir früher gern lauthals mitgesungen haben, weil er „gewarnt ham“ auf „Bahnfahr'n“ reimte und auch sonst ziemlich lustig war, und der jetzt auf YouTube über die Rothschilds raunt, über eine US-amerikanische Schattenregierung und eine Elite, die Kinder schlachte, weil sie ihrem Blut heilende Eigenschaften zuschreibe. Ich erzählte von dem Typen im Supermarkt, der so nah aufgerückt war, dass ich seinen Atem spüren konnte, als er nach der „zweiten Kassa“ brüllte. Und ich sagte Marlene, dass ich doch irgendwie gehofft habe, die Krise werde uns gescheiter machen, uns zusammenrücken lassen, dass vor der realen Gefahr das Vertrauen in die Wissenschaft wachsen und den Verschwörungstheorien der Boden entzogen werde.

Und auch wenn das vielleicht naiv war, so naiv wie der Glaube, rote Sandalen könnten mich glücklich machen: Traurig bin ich trotzdem. 

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2020)

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