Canal am Sande

Vom Ort übler Ausdünstungen, den jeder mied, zur metropolitanen Eventmeile: eine kurze Geschichte des Wiener Donaukanals.

Der Donaukanal fließt mitten durch meine Kindheit. Dort war er ein breiter, mächtiger Strom, und an seinen Ufern wohnte die Freiheit.“ Mit derart poetischen Worten erinnert sich die Wiener Schriftstellerin Gina Kaus Mitte der 1920er-Jahre an die besondere Rolle, die der Donaukanal in ihrer Heimatstadt spielte. In einem kurzem Essay erzählt sie vom „großen Wasser“, das geheimnisvoll und aufregend auf sie wirkte, von Schiffen und den darauf arbeitenden „schwarzen Männern“, vom verrufenen Uferterrain, von dem alle sagten, es sei eine „schlechte Gegend“ und das gerade deswegen umso anziehender auf sie wirkte. Voller Neugier und Abenteuerlust erkundete die Volksschülerin jene topografische und soziale Bruchlinie, die den gesamten Stadtkörper durchzog. Einst lebensnotwendige Verkehrsader, stellte der Donaukanal auch eine mentale Grenze dar, die erst in jüngster Zeit dabei ist, überwunden zu werden.

Nur schwer hatte sich das Wasser zähmen lassen. Die Bemühungen, den ehemaligen „Wiener Arm“ – so die ursprüngliche Bezeichnung für den stadtnächsten Nebenfluss des sich vielfach verzweigenden Donaustroms – schiffbar zu machen und als künstliches Gerinne auszubauen, reichen Jahrhunderte zurück. Doch trotz der zahlreichen wasserbaulichen Eingriffe bedrohten weiterhin Hochwasser die Stadt – oder ein zu geringer Wasserstand, der die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern gefährdete. Die Uferzonen des seit Beginn des 19. Jahrhunderts „Canal“ genannten Gewässers waren für die Wiener Bevölkerung alles andere als einladend. Nicht selten war die Luft von Gestank durchweht, sammelten sich in ihm doch sämtliche Abwässer der Stadt, die über die Wienerwaldbäche in die Donau weitergeleitet wurden. Überflutungsgefahr, Mistablagerungsstätte, Ort übler Ausdünstungen und Miasmen: Derart negative Aspekte prägten das Image des Donaukanals.

Erst die Transformation Wiens zur modernen Großstadt brachte entscheidende Veränderungen: der Abbruch der Stadtmauern, die große Donauregulierung der 1870er-Jahre, die städtebaulichen Eingriffe der Jahrhundertwende. Der neuralgische Punkt der Abzweigung vom Hauptstrom wurde mittels Sperrschiff und später Wehranlage technisch auf der Höhe der Zeit reguliert, die Ufer wurden mittels solider Kaimauern befestigt, hinter denen riesige Sammelkanäle verliefen, die die Abwässer der Stadt aufnahmen. Zahlreiche stabile Brücken verklammerten das zunehmend dichter verbaute Ufer jenseits des Donaukanals mit der Kernstadt. Der rund 17 Kilometer lange Donaukanal avancierte zu einem technisch beherrschten Fließgewässer, das sich nun auch hygienisch in modernem Gewand präsentierte.

Vor allem im innenstadtnahen Bereich intensivierte sich nun die Nutzung der Uferzonen. Promenadenwege wurden angelegt, bei der Salztorbrücke wurde ein riesiger Fischmarkt errichtet, und gleich vier Badeschiffe mit Strombädern standen der schwimmbegeisterten Bevölkerung zur Verfügung. Die entlang dem rechten Ufer verlaufende Stadtbahn wurde von Otto Wagner mit speziellen Schaueffekten versehen. An mehreren Stellen gaben rhythmisierte Durchbrüche den Blick frei auf Wasser und Uferbereich, wodurch sich für die Vorbeifahrenden gleichsam kinematografische Filmkader-Ausblicke ergaben. Die Großstadt war am Donaukanal angekommen. Gerade auch in sinnlicher Hinsicht, wie Gina Kaus bemerkte, die sich noch gut an die in den ersten Jahren dampfbetriebene Stadtbahn erinnerte. Deren Trasse erschien ihr abends wie der „Eingang zur Unterwelt“: „Und es kam auch ab und zu, unter ungeheurem Getöse, ein Sprühregen Höllenfeuer hervor, gefolgt vom Höllenhund mit den hundert glühenden Augen.“ Deutlich weniger großstädtisch präsentierte sich das jenseitige Ufer, die traditionell jüdisch dominierte Leopoldstadt. Nur die Randverbauung gab sich großbürgerlich-prunkvoll, unweit dahinter erstreckten sich (auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos) ausgedehnte, vorstädtisch-proletarisch geprägte Areale. Diese unterschieden sich schon allein im Straßenbild deutlich von der mondänen Innenstadt, was dazu beitrug, dass der Donaukanal sich in den „mental maps“ der Wiener als soziale Demarkationslinie festschrieb. Sein Überschreiten bedeutete den Eintritt in eine „andere Welt“.

Mit dem Niedergang der ökonomischen und verkehrsmäßigen Bedeutung des Donaukanals stieg seine Erholungsfunktion in der Zwischenkriegszeit weiter an. Vor allem das südseitige, sonnenbegünstigte Ufer entwickelte sich zum begehrten Freizeitareal der Anrainer, die sich im Sommer gerne auf den Wiesen ausbreiteten. Ehe der Nationalsozialismus den Donaukanal erneut – im Sog massiver antisemitischer Propaganda – als scharfe Trennlinie begriff, als Grenze zum „Judenbezirk“. Die Bebauung der Leopoldstadt galt als „minderwertig und veraltet“, in mehreren Planungsvarianten spielte man deren Schleifung und monumental-pompöse Neugestaltung durch, womit auch der Donaukanal eine geänderte Funktion erhalten hätte. Stattdessen wurde er im April 1945 zum heftig umkämpften Kriegsschauplatz, zur finalen Hauptkampflinie mit am Ende fast vollständig zerstörten Brückenverbindungen.

Nur zögernd erfolgte nach dem Krieg die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den beiden Ufern. Zwar waren die Brücken bald wieder instand gesetzt oder neu errichtet, die Neugestaltung der zerstörten Uferzonen blieb jedoch lange Zeit ein Torso. Bewusst oder unbewusst symbolisierte der Donaukanal die sozialen Gräben, die nach wie vor tief waren, angesichts des Schicksals der ermordeten und vertriebenen jüdischen Bevölkerung.

Beide Seiten zu verbinden, das versuchte in jener Zeit der bekannte Seiltänzer Josef Eisemann mit einer spektakulären Aktion. Er ließ im Juli 1949 ein Seil in 40 Meter Höhe spannen vom Direktionsgebäude der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, nahe der Urania, zu einem Haus am linken Kanalufer. Mit artistischen Einlagen wollte er den Donaukanal überqueren und – als Höhepunkt – ein Mädchen auf seinen Schultern tragen. Mehr als 2000 Zuschauer hoben staunend die Köpfe, als Eisemann mit dem Kind unter den Klängen einer Musikkapelle das Seil betrat. Vom Leopoldstädter Ufer her kommend, näherte er sich der Mitte des Flusses, ging von dort zügig weiter, begann jedoch schließlich zu schwanken, verlor das Gleichgewicht und stürzte unter dem gellenden Aufschrei der Menge mit dem Mädchen in die Tiefe. Beide schlugen hart am Kai auf und waren sofort tot. Wie sich später herausstellte, war das Kind die 15-jährige Tochter des Seiltänzers gewesen.

Die Katastrophe prägte sich tief ein in das Gedächtnis der Anwesenden. Einer von ihnen war der bekannte Fotoreporter Walter Henisch, der die wagemutige Idee verfolgt hatte, sich ebenfalls auf die Schultern des Seiltänzers zu setzen und von dort aus seine Eindrücke fotografisch festzuhalten – ein Ansinnen, das kurz vor Beginn der Vorstellung von der Polizeibehörde verboten wurde, wie uns Sohn Peter Henisch in seinem Roman „Die kleine Figur meines Vaters“ überliefert. Auch der Wiener Filmemacher Peter Patzak war als vierjähriges Kind Zeuge des Ereignisses, an das er sich noch heute erinnert.

Das Scheitern dieses Versuches mag stellvertretend stehen für die zahlreichen Anstrengungen, dem Donaukanal eine zeitgemäße Funktion im Nachkriegs-Wien zuzuweisen. Städtebauliche Ideenwettbewerbe wurden veranstaltet, bei denen Architekten wie Erich Boltenstern den Donaukanal durchaus als zentrales „Gelenk im Stadtorganismus“ begriffen. Realisiert wurde davon jedoch ebenso wenig wie die Mitte der 1960er-Jahre aufkommende Idee, eine Stadtautobahn durch das Bett des Kanals zu führen.

Was blieb, war die Verherrlichung des Donaukanals in der Musik. „A schräge Wies'n am Donaukanal“, im Jahr 1960 von Hans Lang komponiert, avancierte zu einem der populärsten Wienerlieder der Nachkriegszeit. Es markierte eine wichtige Etappe in der kollektiven Akzeptanz dieser speziellen Stadtlandschaft. Nicht von ungefähr gehört es bis heute zum Repertoire bekannter Austromusiker wie Joesi Prokopetz, Reinhard Fendrich oder Willi Resetarits.

So war es dann auch die Freizeit- und Kulturnutzung, die ab den 1980er-Jahren einen ersten spürbaren Aufschwung für den Donaukanal einleitete: Der Z-Club eröffnete 1984 ein „Showboat“, ein Jahr später wurde ein DDSG-Rundfahrtschiff nahe der Marienbrücke als Restaurant und Walzeraufführungsstätte verankert; 1988/89 folgten ein Kunst- und Kulturmarkt sowie die alternative Kunstgruppe „Agora“. Auch auf historisch-wissenschaftlicher Ebene erfuhr der Donaukanal endlich eine Würdigung: Bertrand Michael Buchmann, Harald Sterk und Rupert Schickl legten im Auftrag der Stadt Wien eine umfassende Studie zur städtebaulichen Entwicklung des Donaukanals vor – ein bis heute gültiges Standardwerk. Allerdings: Fast alle Initiativen waren im innenstadtseitigen Uferbereich angesiedelt, das gegenüberliegende Leopoldstädter Ufer blieb weiterhin großteils „unbespielt“. Erst dem beginnenden 21. Jahrhundert gelang es, diese Tabuzone der Wiener Stadtplanung zu durchbrechen. Es war die auch international zu beobachtende Neubewertung des öffentlichen Raumes unter ökonomischen Gesichtspunkten, seine Kommerzialisierung und Privatisierung, die über die Uferzonen des Donaukanals schwappten und diese binnen kürzester Zeit zu Event- und Gastromeilen werden ließ.

Strandbar Herrmann, Badeschiff, Flex, Pier 9, Adria Wien, Tel-Aviv-Beach sowie zahlreiche weitere Sommerlokale mit zugehörigem Sandstrand machen den Donaukanal heute zum „Szene-Wasser mit innerstädtischem Erlebnis-Appeal“ (so der „Falter“). Die farbige Effektbeleuchtung der Brücken verströmt auch nachts metropolitanes Flair, die jüngste kulinarische Aufrüstung mit Spitzenköchen wie Christian Petz und Mario Bernatovics sorgt für zusätzliche Attraktion. Zahlreiche neue oder noch zu realisierende Projekte – etwa die Schiffsstation für den „Twin City Liner“ (siehe auch die Architekturkritik auf Seite elf in diesem „Spectrum“) – werden diesen Trend verstärken und zu einer weiteren Verdichtung der Nutzung führen. In der Wiener Stadtverwaltung wurde mittlerweile ein eigener „Donaukanalkoordinator“ bestellt, der sich um die Abstimmung sämtlicher Aktivitäten und deren Einbeziehung in den „Masterplan Donaukanal“ kümmert. Dieser sieht als langfristiges Ziel einen attraktiven Mix zwischen Freizeit-, Gastronomie- und Erholungsraum vor. Bleibt zu hoffen, dass nicht alle citynahen Bereiche ausschließlich der kommerziellen Nutzung anheimfallen. Der Donaukanal als durchökonomisierte Eventzone mit musikalischer Dauerbeschallung – das wäre wohl eindeutig zu viel.

Eingebettet in City-Branding-Strategien und Imagekampagnen, ist der Wiener Donaukanal heute zu einem vorzeigbaren Faktor geworden im harten Wettbewerb der Metropolen um Touristenströme und mediale Aufmerksamkeiten. Mehr als 100 Jahre nach seiner urbanen Inkorporation scheint er endlich als wertvoller Teil der Großstadt Wien akzeptiert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2010)

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