Portrait

Kaddisch während Corona

Lebensstationen: Wien, Palästina, New York. Fanny, Jahrgang 1924.
Lebensstationen: Wien, Palästina, New York. Fanny, Jahrgang 1924. (c) Schuhmacher
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Tod ohne Verabschiedung: Vor drei Jahren lernte ich Fanny, Wiener Jüdin, Jahrgang 1924, in New York kennen. Einst floh sie vor dem Holocaust, nun starb sie während des Corona-Lockdown – das Totengebet mussten ihre Angehörigen via Zoom sprechen.

Es waren unsere sogenannten guten Freunde und Nachbarn, die uns bestahlen und unsere Wohnung und das Geschäft plünderten! Wir kannten die meisten gut.“ So beschrieb Fanny, geborene Franziska, voller Entrüstung, was sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester während der Novemberpogrome 1938 in Wien erlebten. Auch 80 Jahre danach waren die Erinnerungen daran spürbar schmerzhaft. Vor wenigen Wochen ist Fanny in New York City verstorben, allein, ohne die Möglichkeit, Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn ein letztes Mal zu umarmen. Bei ihrem Begräbnis war nur der Rabbiner ihrer Synagoge anwesend.
Es war der Höhepunkt der Corona-Krise in der Stadt. Die Zahl der Todesfälle am 19. April lag bei über 700, New York war im Lockdown gefangen. Berichte von überfüllten Krankenhäusern, Kühlwagen zum Aufbewahren der Leichen, einem Massengrab für Arme auf Hart-Island, einem Lazarettschiff im New Yorker Hafen und einem Feldspital im Central Park waren in den Medien allgegenwärtig. Kein guter Zeitpunkt für eine würdevolle Verabschiedung von einer 95-Jährigen, die am eigenen Leib erfahren hatte, zu welch grauenhaften Taten die Menschheit fähig ist.

Die 1924 in Wien geborene Fanny war warmherzig, offen, stets freundlich und unglaublich geistesgegenwärtig. Wir hatten einander vor drei Jahren kennengelernt, als ich begann, über in New York lebende Holocaust-Überlebende aus Österreich zu recherchieren. Für immer werde ich Rugelach, eine jüdische Spezialität aus eingerollten Teigröllchen, mit Nüssen, Marmelade oder Schokolade, die sie mir bei unserem ersten Treffen anbot, mit ihr assoziieren. Sie war anfangs sehr misstrauisch, ich war schließlich aus Österreich, einem Land, mit dem sie nur Negatives verband. Ihre kleine Schwester und ihr Vater waren in Auschwitz ermordet worden, ihre Mutter überlebte nur knapp. Fanny entkam im Frühjahr 1939 nach Palästina und emigrierte nach New York. Sie heiratete einen Holocaust-Überlebenden aus Deutschland und gebar zwei Söhne. „Du fragst dich sicher, was wir unseren Kindern und Enkeln erzählten“, sagte sie zu mir. „In Wahrheit nicht viel. Wir wollten ihnen diese Grausamkeiten ersparen.“

Eine wunderbare Freundschaft entwickelte sich zwischen uns. Nie vergaß sie Details eines vorangegangenen Gesprächs, und ich freute mich beim Abschiednehmen bereits auf das nächste Wiedersehen oder Telefonat. Manchmal gingen wir gemeinsam zum „Stammtisch“, einem seit 1943 wöchentlich in New York stattfindenden Treffen deutscher und österreichischer Holocaust-Überlebender. Anfangs musste ich sie überreden mitzukommen, Fanny war sich nicht sicher, ob sie sich noch auf Deutsch würde unterhalten können. Außerdem war sie es nicht mehr gewohnt, am Abend auszugehen, musste ihrem Sohn versprechen, ihn anzurufen, sobald sie wieder zu Hause war. Mit der Gastgeberin des Stammtisches, einer 94-jährigen ehemaligen Wienerin, verstand sich Fanny bestens. Die beiden unterhielten sich in fließendem Deutsch über ihre Kindheiten in Wien, ihre ehemaligen Schulen, ihre österreichischen Lieblingsspeisen und ihre Familiengeschichten. Fanny schien glücklich zu sein an diesen Abenden, blühte im Gespräch auf.

Zum letzten Mal sah ich Fanny im Februar. Wir gingen mittagessen ins Café Effy, ein koscheres Restaurant auf der Upper West Side. Sie trug einen selbst gehäkelten lila Hut mit lila Schal. Wir lachten über den Namen des Restaurants, „Holy Schnitzel“, an dem ich auf dem Weg zu ihr vorbeigegangen war. Sie kannte es gut, bestellte häufig dort. Während unseres letzten Telefonats wenige Wochen vor ihrem Tod, als das Virus die Stadt bereits im eisernen Griff hielt, erzählte sie mir von einem Besuch in einem Hardware Store, um eine Glühbirne zu kaufen. Ihre beiden Söhne hätten sich darüber so aufgeregt, meinte sie schmunzelnd. Ich war froh zu hören, dass sie ihr klargemacht hatten, Geschäfte in dieser Zeit zu meiden. Dann ereilte ihr Schicksal sie jedoch innerhalb der eigenen vier Wände.

Sie war in ihrer Wohnung gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Von der Operation schien sie sich gut zu erholen, bis eine plötzliche Verschlechterung einsetzte. Bis zum Schluss telefonierte sie über FaceTime mit ihrer weit verstreuten Familie. Niemand durfte sie persönlich besuchen, alle waren in Covid-19-Quarantäne. Als sich ihr Zustand verschlechterte, gab sie auf. Sie war am Ende ihrer langen Lebensreise angekommen, die sie von Wien über Palästina nach New York geführt hatte. An Fannys Todestag lagen im Bestattungsinstitut in Manhattan statt der üblichen ein bis drei Verstorbenen 13. Man konnte den Angehörigen zunächst nicht einmal genau sagen, wann man sie würde bestatten können, obwohl gemäß jüdischen Brauchs Beerdigungen gleich am nächsten Tag stattfinden sollten. Tahara, das rituelle Reinigen und Bekleiden des Körpers, konnte glücklicherweise vollzogen werden. Shmirah, das Bewachen des Körpers bis zur Bestattung, war nicht möglich. Fanny war strenggläubig, und ihre Söhne waren den Tränen nahe, als sie realisierten, dass ihre Mutter ihre letzten Stunden bis zum Begräbnis unbegleitet würde verbringen müssen.

Auf dem Friedhof in New Jersey, auf dem sich auch das Grab ihres verstorbenen Ehemanns befindet, fanden am Tag von Fannys Bestattung mehr als dreißig weitere Beerdigungen statt. Nicht einmal ein Leichenwagen, sondern ein SUV wurde für ihre letzte Fahrt verwendet. Die einzige vertraute anwesende Menschenseele war der Rabbiner ihrer Synagoge. Die Angehörigen in Israel, Boston, Florida und Kalifornien wohnten der letzten Zeremonie über Zoom bei und rezitierten das Kaddisch, das Totengebet, virtuell. Der Rabbiner kniete nieder und warf Erde auf den Sarg, da kein Friedhofspersonal fürs Vergraben zur Verfügung stand. Das musste bis zum Abend warten.

Die Erinnerung an Fanny wird in den Herzen der Menschen weiterleben, die sie geliebt haben. Sobald die Corona-Krise vorbei ist, wird man sich gebührlich von ihr verabschieden. 40.000 Überlebende des Holocaust hatten vor Ausbruch der Krise in der New Yorker Gegend ihr Zuhause. Einige von ihnen hat das Virus bereits dahingerafft, ihre Erinnerungen und Erzählungen für immer gelöscht. Ein Riesenverlust für die Menschheit. Und Fannys Tod ein unbeschreiblicher Verlust für mich. ■

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