Kommentar

Wie Modehäuser zu Reisebüros wurden

Louis Vuitton im TWA Terminal in New York.
Louis Vuitton im TWA Terminal in New York.Grégoire Vieille
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Für die Präsentation der Cruise- oder Ressortmode luden Marken in den letzten Jahren zu Events rund um den Globus ein. Die Phase dieses Jetset-Wetteiferns sollte aber mit der Coronakrise zu Ende gehen.

Der Spätfrühling wuchs sich für die Vielflieger unter den Modejournalisten, Influencern und VIPs, die in der Gunst der großen Modehäuser stehen, in den letzten Jahren zur liebsten Jahreszeit aus. Weihnachten, Geburtstag und Halloween – alles irgendwie auf einmal, in der Businessclass-Kabine.

Den Anfang mit Einladungen zu internationalen Präsentation der für den Handel so wichtigen Cruisekollektionen mit Verkaufsstart in der Vorweihnachtszeit machte einst Chanel, es folgten andere große Maisons, und zuletzt wollte augenscheinlich kaum mehr jemand sich angesichts dieses Treibens lumpen lassen. 

Das ganze Ausmaß dieses Reisefiebers erschloss sich selbst unter Insidern nur den wenigsten: Kaum jemand war zu allen Events eingeladen oder nahm die damit verbundenen Strapazen auf sich. Die passenderweise mit „Global Diary“ überschriebene Kolumne einer deutschen Modejournalistin führte aber zuletzt vor Augen, was sich hier über die Jahre zusammengebraut hatte. 

Von Flugscham, dem Gedanken an einen Systemneustart oder Aspekte der Nachhaltigkeit ist wenig zu spüren, wenn die „Welt"-Stilchefin darüber fantasiert, wie ihre aktuelle Reiseplanung ausgesehen hätte – also wenn alle Schauen, zu denen sie dieser Tage eingeladen war, stattgefunden hätten.

Langstrecke nach Tokio (zu Prada) von San Francisco (bei Gucci), davor Stopps auf dem Mode-Grand-Tour in Dubai (Armani) und, immerhin in Europa, London (Hermès). Zwischendurch Dolce Vita auf Capri (Chanel) und in Lecce (Dior), mit Abstechern nach Cannes (Chopard) und Antibes (Parfums Dior). Wie Trips nach St. Petersburg (Max Mara) und an einen bis zum Beginn des globalen Shutdowns noch nicht verlautbarten Ort (Louis Vuitton) zu schaffen gewesen wären, all das innerhalb weniger Tage, erschließt sich dem staunenden Leser nicht.

Kaum jemand reist wie die Autorin der Kolumne es tat oder zu tun plante, tatsächlich zu all diesen Events. Die Arglosigkeit, mit der sie ihre Sehnsucht nach diesen entfallenen Reisen vorträgt, mutet aus heutiger Perspektive bizarr, ja unpassend an. Denn das ganze Ausmaß des Cruisetreibens mit seiner haarsträubenden CO2-Bilanz kann nur als symptomatisch für ein völlig überhitztes System wahrgenommen werden. 

„Wenn das Wörtchen mit C nicht wäre" (so der Titel der „Welt"-Kolumne), hätten nicht nur die Kommunikationsabteilungen von Armani, Chanel, Louis Vuitton und Co. sich in den letzten Wochen geradezu in Reisebüros verwandelt, sondern es wären auch einige der nun so dringenden Fragen nicht laut gestellt worden.

Zum Beispiel auch jene, die auf die Sinnhaftigkeit solchen Brimboriums abzielen. Jetzt aber hat Gucci angekündigt, den Schauenkalender völlig zu überdenken und voraussichtlich auf die Cruisekollektion zu verzichten, in einem offenen Brief haben viele Branchenvertreter sich für eine Neuordnung des Systems ausgesprochen, Giorgio Armani hat als erster Kritiker diesbezüglich das Wort ergriffen und ebenfalls schon das Ende seiner Cruiseschauen im Ausland angekündigt.

Ob es wirklich zu einem von vielen erhofften und der Branche dringend verordneten Systemneustart in der Mode kommt, ist noch nicht abzusehen. Was sich aber wohl nicht nur inmitten der Coronakrise seltsam und weltfremd ausmacht, ist das beschriebene Jetset-Wetteifern. Man könnte versucht sein, sein mögliches Wiederaufflammen oder endgültiges Ende als Indiz für den tatsächlich vorhandenen Umgestaltungswillen in der Branche zu begreifen. 

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