Telemedizin

Wenn das Smartphone zur Arztpraxis wird

Die Presse/Clemens Fabry
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Von Kinderheilkunde bis hin zur Psychotherapie: Die Coronakrise machte die Telemedizin in Österreich salonfähig. Anruf, Video und E-Rezept sind nun möglich – stoßen aber auch an ihre Grenzen.

„Ist es wirklich nötig, deshalb zum Arzt zu gehen?“ Diese Frage stellte sich Eva, als sie ihrer 18 Monate alten Tochter die Windel wechselte und einen kleinen weißen Wurm fand. Kurz darauf entdeckte sie zwei weitere bei ihrem vierjährigen Sohn. Sie war nicht beunruhigt. Vor zwei Jahren hatte ihr heute Sechsjähriger eine Infektion mit Madenwürmern, Oxyuren, hinter sich gebracht. Nun traf es auch die beiden Geschwister. „Mit drei Kindern zum Doktor, das ist immer eine große Sache“, sagt Eva, die anonym bleiben möchte. „Das Anziehen, Einsteigen, alles dauert – und seit Corona müssen noch dazu Masken getragen und im Freien vor der Praxis gewartet werden. Das ist sehr mühsam.“

Eine glückliche Fügung folglich, dass just am Tag des Wurmfundes eine Freundin den Link zu Lilo Health auf Facebook teilte. Dahinter verbirgt sich – nach „drd“ – Österreichs zweite digitale Gesundheitsplattform, auf der Videoanrufe mit Ärzten abgehalten werden können. Drei Allgemeinmediziner und drei Kinderärzte bieten hier täglich 15-minütige Sprechstunden an, die nötige Software stellt die Wiener Firma 1Health GmbH, die Kosten (praktische Ärzte verrechnen pro Termin 49 Euro, Fachärzte in der Regel 65 Euro) übernimmt bis Ende Juni die Uniqa – unabhängig davon, ob man dort versichert ist oder nicht.

Ausschlag bis Zeckenbiss. Eva entschied sich für einen 14-Uhr-Termin an einem Samstag. Um ihn wahrzunehmen, musste sie sich vorab auf der Plattform mit Namen, Telefonnummer, E-Mail-Adresse und Sozialversicherungsnummer anmelden. Über den Webbrowser kam sie dann direkt zum Mediziner, schilderte ihm ihre Beobachtungen und erhielt im Anschluss Rezept und Arztbrief.

Verena Herrmanns, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, hält täglich Onlinesprechstunden ab.
Verena Herrmanns, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, hält täglich Onlinesprechstunden ab.Die Presse/Clemens Fabry

„Es war sehr unkompliziert, ich saß mit dem Handy im Garten, er in der Ordination“, erzählt die 41-Jährige, „das hat mir Zeit und Nerven gespart“. „Viele Eltern sagten in den ersten Coronawochen den Arztbesuch ab, da sie Ansteckungen befürchteten“, sagt Verena Herrmanns, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde. „Selbst Mütter von Frühgeborenen eilten nach Hause“, erzählt die Oberärztin der Abteilung für Neonatologie im Wiener St. Josef Krankenhaus. „Das machte wiederum uns Medizinern Sorgen, da der Beginn chronischer Erkrankungen, wie Diabetes oder Leukämie, so leicht übersehen werden kann.“

»„Es war sehr unkompliziert, ich saß mit dem Handy im Garten, der Arzt in seiner Ordination.“«

Lisa Denk. Die Mutter von drei Kindern über die Onlinesprechstunde beim Kinderarzt.

Um Derartiges zu verhindern, entschied sie sich, Teil von Lilo Health zu werden, wo sie seit 29. April Anrufe entgegennimmt. Das Spektrum an Anliegen ist breit: „Von Ausschlägen über Nabelbrüche bis zu Zeckenbissen war alles dabei“, sagt sie. „Meistens sind es Väter, die mit dem Kind am Schoß vor der Kamera Platz nehmen. Und meistens ist die Stimmung gut: Die Kinder sind ganz aufgeregt, wenn da eine Ärztin im Wohnzimmer auftaucht“, lacht sie.

Ohne Vertrauen kein Rezept. Allerdings: Das Service hat seine Grenzen. „Wir können weder in den Hals noch die Ohren schauen, das Abhören fällt weg, bei Bauchschmerzen kann nicht abgetastet werden“, räumt Herrmanns ein. „Aber wir können bei vielen Dingen Entwarnung geben, bei anderen Dingen wiederum die Sicherheit, dass man, wenn man jetzt ins Krankenhaus geht, nicht den Vorwurf hört: ,Was tun Sie hier, das ist doch kein Notfall‘.“

Etwa zeitgleich mit Lilo Health entschied sich auch Hautärztin Anna Gappmayer, ihre Patienten digital zu betreuen. „Schon früher habe ich immer wieder E-Mails mit Fotos von Ekzemen, Flecken oder Ausschlägen bekommen und wurde um eine Einschätzung gebeten, nun biete ich das offiziell an.“ Via ihrer Ordinationssoftware können Patienten entsprechende Bilder – „am besten wird in einem fensterlosen Raum fotografiert“ – übermitteln und sich einen Termin für ein Gespräch ausmachen. „Ich bevorzuge Telefonate, da Videocalls bei Hautthemen oft keinen Mehrwert bringen, die Auflösung und Farbgebung der meisten Geräte ist dafür einfach nicht optimal“, meint die Wahlärztin.

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Dass die Distanz und die Möglichkeit der Quasi-Anonymität zu Missbrauch führen könnten, befürchtet Gappmayer nicht: „Die Personen müssen sich mit ihren Daten ausweisen, anders kann ich ja kein Rezept ausstellen. Und digital gilt dasselbe wie analog: Sagt mir mein Bauchgefühl, dass das Gegenüber nicht vertrauenswürdig ist, verschreibe ich ihm nichts.“

Eine Strategie, die auch Schmerzmediziner Christopher Gonano zu seinem Credo gemacht hat. „Meine Patienten sind auf ganz Österreich verteilt, haben stets eine lange Leidensgeschichte hinter sich und sind oft nicht mehr die Jüngsten, weshalb ich schon vor der Pandemie einstündige Telefon- oder Videoeinheiten mit ihnen abgehalten habe“, erzählt er. Seine Klientel: Personen mit künstlichen Knien oder Hüftprothesen, starken Abnützungen in der Wirbelsäule, Bandscheibenvorfällen, Leistenbrüchen sowie neurologischen Schmerzen nach Operationen. „Bevor ich mit ihnen spreche, schicken sie mir ihren Stapel an Befunden zu, ich lese mich ein, dann wird ausführlich gesprochen“, nennt er den Ablauf. „Es geht mir darum, herauszufinden, welche Schmerzen sie plagen: Schießt es ihnen spitz ein, wenn sie mit dem Finger die Narbe berühren oder schafft das Linderung?“ Kurzum: Welche Quantität hat der Schmerz auf einer Skala von null bis zehn?

„Das klingt äußerst subjektiv, aber ebenso subjektiv nehmen die Menschen ihren Schmerz wahr“, sagt Gonano, „daher ist das die Basis, um ihnen eine auf sie abgestimmte Kombination von Medikamenten zu verschreiben“. Mit dem entsprechenden Rezept und einer Anleitung zur Einnahme, wird den Patienten auch eine Honorarnote übermittelt.

Psychotherapie auf Abstand. Von diesem Schritt ist Andi22 noch weit entfernt. So lautet eines von vielen Pseudonymen, mit dem sich jemand auf der Webseite der Vereinigung der Österreichischen Psychotherapeuten (VÖPP) angemeldet hat, um an einer kostenlosen Erstberatung teilnehmen zu können. Neben einem Namen ist eine Telefonnummer, eine E-Mail-Adresse und ein Termin anzugeben, an dem man von einem Psychotherapeuten angerufen werden möchte.

»„Hätte ich meine Patienten nicht begleiten dürfen, wären einige nicht mehr unter uns.“«

„Der Psychotherapeut sieht nur die Telefonnummer und den Namen, die E-Mail-Adresse bleibt verborgen“, sagt VÖPP-Vorstandsmitglied Simon Zehetner, „sie dient nur der automatisierten Terminbestätigung“. Nach dem Gespräch werden die Daten wieder gelöscht. „Die Coronakrise hat bei vielen das Gefühl des Alleingelassenseins, der Machtlosigkeit ausgelöst und alte Traumata wach werden lassen“, schildert Zehetner. „Allen voran Alleinstehende sind jetzt gefährdeter, in eine Depression zu kippen.“

Um ihnen rasch und unkompliziert zu helfen, wurde seitens des Sozialministeriums und der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) nun die Teletherapie ermöglicht. Ein – vorerst nur temporäres – Angebot, das auf fruchtbaren Boden fiel: „Ohne die Videositzungen mit meinem Therapeuten wäre ich verzweifelt“, sagt Maria, die ihren richtigen Namen nicht preisgeben möchte. Die 31-Jährige leidet an einer ausgeprägten Ess- sowie einer Angststörung. „Ich pendle zwischen den Extremen“, sagt sie.

Um ihre Themen aufarbeiten zu können, wurde ihr im Februar eine psychosomatische Reha ermöglicht. Doch sie währte nur kurz. „Im März kam das Virus“, erinnert sie sich, „und von einem Tag auf den anderen hieß es: Koffer packen, die Klinik muss schließen“. In Maria machte sich Panik breit: „Mitten in der Therapie aufzuhören war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen entrissen.“ Sofort griff sie zum Telefon. „Ich hatte Glück und bekam gleich einen Videotermin.“

Ganz unproblematisch war das anfangs nicht: „Erst versuchte  ich es mit dem Handy, da kann man dem anderen aber nicht gut in die Augen sehen, also wechselte ich an den Laptop“, sagt die Wienerin. Ab und an fiel die Internetverbindung aus. Dritte Schwierigkeit: „Ich will nicht, dass mein Mann mir bei der Therapie zuhört.“ Was tun? „Wir legten die Termine so, dass er da mit den Hunden spazieren oder einkaufen geht“, sagt Maria, „so hilft die Teletherapie uns allen“.

Eine Einschätzung, die der Psychiater Dietmar Bayer teilt. „Dass die ÖGK die Psychotherapie per Videotelefonie gestattet hat, war lebensnotwendig“, meint er. „Hätte ich meine Kassenpatienten in den letzten Wochen nicht begleiten dürfen, wären einige von ihnen vermutlich nicht mehr unter uns.“

Was in Österreich als Telemedizin gilt

Rechtslage

Chats: Die Fernbehandlung ist nicht verboten, aber: „Die Coronazeit hat einen Wildwuchs gebracht“, sagt Dietmar Bayer, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Telemedizin. „Ärzte bieten Telefon- und Videochats an, das Gesetz hinkt hinterher.“ So fehlten Vorgaben zu Identitätskontrolle und Datensicherheit. „Skype oder Zoom werden jetzt eingesetzt, aber nicht ewig; langfristig braucht es zertifizierte Software.“

E-Medikation: Seit Dezember werden in allen Apotheken und bei über 6300 Vertragsärzten alle Medikamente elektronisch erfasst. Nur Ärzte, die älter als 65 sind, Zahn- sowie Wahlärzte sind dazu nicht verpflichtet.

E-Rezept: Seit März genügt für ein Rezept ein Anruf beim Arzt. Er übermittelt es elektronisch an die gewählte Apotheke oder per Code auf das Handy des Patienten. Durch Stecken der E-Card in der Apotheke kann das E-Rezept auch ohne Code abgerufen werden.

Projekte: In Tirol und der Steiermark wird die App HerzMobil erprobt. Sie misst u. a. Puls und Blutdruck von Herzinsuffizienz-Patienten und schickt sie an den Arzt. In der Testphase befinden sich auch Apps bei Diabetes (DiabMemory) und Bluthochdruck (CardioMemory).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2020)

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