Plattenkritik

Neues Album von The 1975: Jeder Song muss anders klingen

Stilistisch zerrissen: die britische Band The 1975.
Stilistisch zerrissen: die britische Band The 1975.Universal
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Knattern, Schnalzen, Jeiern: Die britische Indie-Pop-Band The 1975 erweitert ihr Soundspektrum auf dem – teils in Wien aufgenommenen – Album „Notes On A Conditional Form“ dramatisch.

Was macht eine Band aus? Wiedererkennbarer Sound oder permanente Neuerfindung? Gerade in konservativen Genres wie Classic Rock oder Indierock herrscht Authentizitätszwang, dessen Verletzung mit Liebesentzug geahndet wird. In diesem Licht besehen ist „Notes On A Conditional Form“, das vierte Album der britischen Band The 1975, kein geringes Wagnis. Es verunsichert die vertraute Indiewelt und wird dennoch wieder auf Platz eins der Hitparaden landen.

Greta Thunbergs Losung

Auf über 80 Minuten Spielzeit rattern 22 Songs ans Ohr, die völlig unterschiedlich sind, von Ambient bis Punk, von 80er-Jahre-Mainstream bis zu Dubstep, von Yacht-Rock bis House. Einzige Konstante ist der traditionell verschummerte Opener „The 1975“, mit dem bisher jedes Album der Band beginnt. In seiner aktuellen Gestalt bemüht er niemand Geringeren als Greta Thunberg, die mit sanfter Stimme ihr Klimawandel-Evangelium zu esoterischen Keyboard-Sounds herunterbetet. Er endet in bedrohlichem Ton mit Gretas Losung: „It's now the time for civil disobedience. It is time to rebel.“

Diesen Alarmismus nehmen The 1975 als Impuls für ihr bislang ideenreichstes Werk. Ansatzlos knallen sie dem noch von Thunbergs beseelter Stimme ergriffenen Hörer den Kracher „People“ entgegen. Matthew Healys Organ überschlägt sich darauf förmlich. Brachial reißt er aus Schlummer und Wohlgefühl. Sein Kriegsruf lautet „Wake up, wake up, it's Monday morning!“ Quarantänefeeling macht sich breit, wenn es dann heißt: „Well, girls, food, gear, I don't like going outside, so bring me everything here.“

Als hätten sie geahnt, dass 2020 pandemiebedingte Sesshaftigkeit angesagt ist, haben The 1975 die letzten Reisefreiheiten ausgereizt und ihre Achterbahnfahrt zwischen der Genres in L. A., London, Sydney und – Überraschung – auch in Wien aufgenommen, nämlich in den Tic Studios in der Schottenfeldgasse. Die Heterogenität des Albums wirkt seltsam absichtslos. Löst sich da ein Ich auf, ist diese Liedersammlung das Manifest einer multiplen Persönlichkeit?

Wie die Beatles 1968?

Ähnliches gab es bereits. Als die Beatles 1968 ihr später „White Album“ genanntes Doppelalbum veröffentlichten, staunte die Welt, weil praktisch jeder Song in einem anderen Stil aufgenommen war. Allerdings waren die klanglichen Gebilde noch im abgedrehtesten Moment als Beatles-Songs zu erkennen. Das ist bei „Notes On A Conditional Form“ anders. Am sinnenfälligsten bei der düsteren Dubstep-Fantasie „Shiny Collarbone“, wo sich Matthew Healy das Mikrofon mit dem jamaikanischen Dancehallveteranen Cutty Ranks teilt. Eine mit Gitarren bestückte Band würde man hinter diesen wahnwitzig stolpernden Beats und den steinerweichend ächzenden Maschinen jedenfalls nicht vermuten.

Es herrscht das Prinzip Playlist

So wirkt dieses Album weniger wie ein Album als wie eine Playlist, also die heute vielleicht verbreitetste Form, Popsongs zu gruppieren. Ein bisschen erinnert es an Todd Rundgrens Album „Faithful“ (1976), auf dem dieser bekannte Lieder der Beatles, der Beach Boys und von Jimi Hendrix brillant nachstellte. Wollte die Band bewusst die Idee des Albums als Kunstform des Pop zerstören? Trachtete sie strategisch nach möglichst breiter Akzeptanz vonseiten der Spotify-Generation? Oder trieb sie bloß die Freude an der Abwechslung?

Man weiß es nicht. Doch man spürt in diesem weiten Klangspektrum auch die Spannung zwischen amerikanischer Rockmusik und britischen Dancefloorsounds. Und weil es ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass man, wenn man Schiller lesen muss, lieber Goethe liest und umgekehrt, komponierte Healy seine britischsten Tanzsongs in den USA und seine amerikanischsten Rocker in London. Wenigstens das war ein Andocken an alte Tradition. Zum Glück hat dieses musikalisch zerrissene Opus trotz einiger Aussetzer auch superbe Momente. Die brillanten Duette mit Indiepopqueen Phoebe Bridgers etwa. Oder auch verschummerte Electrodiscoschnalzer wie „What Should I Say“. Fazit: Wirrsal ist die neue Ordnung.

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