Mittagsglosse

Lasst Alexander Hamilton in Frieden ruhen!

Das Gerede vom angeblichen „Hamilton-Moment“ der EU ist geschichtsvergessen und sabotiert einen pragmatischen Umgang mit der Corona-Rezession.

Dieser Tage greift man in Kreisen europäischer Politiker besonders tief in die Wühlkiste historische Parabeln. Gerade noch forderte man einen neuen „Marshall-Plan“ für wahlweise Afrika, das Weltklima, den Westbalkan oder die Corona-geschädigte Wirtschaft, so ist man nun im ausgehenden 18. Jahrhundert und an der Wiege der Vereinigten Staaten von Amerika gelandet: einen „Hamilton-Moment“ erlebe die EU derzeit, kommentierte, beispielhaft für viele, der deutsche Finanzminister Olaf Scholz die Absicht, drei Jahre lang zusätzliche Transfers von 500 Milliarden Euro aus dem Unionsbudget an notleidende Regionen und Branchen zu überweisen, und dies durch Anleihen zu bedecken, welche die Europäische Kommission begeben soll. Gemeint ist: die EU schaffe nun endlich den Sprung zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion, mit gemeinsamem Schuldenmanagement.

Zur Erinnerung: als Alexander Hamilton 1789 Finanzminister wurde, waren die jungen USA praktisch bankrott. Als er sein Amt sechs Jahre später verließ, hatte er die Staatsfinanzen saniert, indem er die Schulden der 13 ehemaligen britischen Kolonien aus dem Unabhängigkeitskrieg auf die Bundesebene übernommen und in ein solides Schuldenmanagement via Staatsanleihen geformt hatte. Damit legte er das Fundament für die Weltmacht der USA, ihrer Treasury Bills, und des Dollars.

Wer Amerikas Geschichte kennt, kann über den Hamilton-Vergleich aus mehreren Gründen nur den Kopf schütteln. Der erste: die Vereinigten Staaten hatten damals ihre Kreditwürdigkeit verspielt - doch das gilt heute für keinen einzigen EU-Staat. Sie alle können sich problemlos refinanzieren. Zweitens: Hamilton verschmolz 13 einzelne Schulden, die doch einen gemeinsamen Grund hatten: den teuren Krieg gegen den König in London. Die bestehenden Schuldenberge der EU-Staaten jedoch haben rein nationale und als solche divergierende Gründe. Drittens: die US-Staatsausgaben damals waren minimal. Stichwort: Nachtwächterstaat. 1790 betrugen die Ausgaben der US-Bundesregierung sage und schreibe 0,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. In der EU des 21. Jahrhunderts hingegen beläuft sich die durchschnittliche Staatsquote auf dem mehr als Hundertfachen. Wir leben nun einmal in umverteilenden Staaten mit ausgebauten Sozialsystemen, und erwarten uns mannigfaltige öffentliche Leistungen. Das kostet etwas. Und viertens: Hamilton schuf ein System, in dem die No-Bail-Out-Regel streng eingehalten wird. Bis heute hat die US-Regierung keinen einzigen bankrotten Gliedstaat herausgeboxt. Dieses Dogma hat die EU bekanntlich gestürzt, um Griechenland im Euro zu behalten.

Aus all diesen Gründen ist es unklug, heute einen „Hamilton-Moment“ Europas herbeizufabulieren. Nur verschwindend kleine Minderheiten wollen Vereinigte Staaten von Europa - und kaum jemand würde, anders als vor 240 Jahren auf der anderen Seite des Atlantik, für sie in den Krieg ziehen (gegen wen auch?). Vor allem stärken solche euro-föderalistischen Schwärmereien den Widerstand gegen den am Mittwoch vorgelegten Plan, die Corona-Rezession nüchtern und pragmatisch zu bekämpfen. Eine gemeinsame Steuerhoheit der EU wolle sie nicht begründen, betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch. „Wie ich es sehe, ist Europa an einem Hamilton-Moment, aber es ist kein Hamilton in Sicht“, unkte der frühere US-Notenbankchef Paul Volcker 2012, als er in der Eurokrise den Kontinent besuchte. Das ist acht Jahre später noch immer wahr.

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