Krisenkonferenz

Ohne Menscheln keine Kompromisse

Bundeskanzler Sebastian Kurz nahm bereits an vier EU-Gipfeln per Videoschaltung teil.
Bundeskanzler Sebastian Kurz nahm bereits an vier EU-Gipfeln per Videoschaltung teil.(c) via REUTERS (Bundeskanzleramt)
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Der Mangel an persönlichem Kontakt steht der Lösung der größten Probleme Europas entgegen.

Brüssel. Zumindest in einer Hinsicht erfahren Europas politische Spitzen die gegenwärtige Pandemie genauso wie jeder Werktätige, der vom Heimbüro aus den Kontakt mit seinen Arbeitskollegen zu pflegen hat: Videokonferenzen sind kein Zuckerlecken. „Wir haben jedesmal dieselben Schwierigkeiten, wenn ich eine unserer Videokonferenzen unterbrechen muss, weil wir uns dann fragen, wie lange es dauert, bis wir das Video wieder einschalten können“, sagte Mário Centeno, der Vorsitzende der Eurogruppe, neulich im Gespräch mit der „Presse“ und einer Handvoll anderer europäischer Zeitungen. Zwar betonte er, dass der nun schon zwei Monate dauernde Mangel des persönlichen Kontaktes der Geschwindigkeit und Güte der Entscheidungen der 19 Euro-Finanzminister keinen Abbruch täten: „Der Umstand, dass wir einander nicht direkt in Brüssel treffen, hatte letztlich keinen Einfluss auf das Ergebnis“, sprich: jenes rund 540 Milliarden Euro an Notkrediten umfassende erste Paket zur Stützung der europäischen Wirtschaft, welches die Eurogruppe am 9. April vereinbart hat.

Doch diese distanzierte Weise, Politik zu betreiben, hat ihre Grenzen – vor allem auf europäischer Ebene. Wirklich brenzlige Schlüsselfragen werden sich ohne die persönliche Zusammenkunft der 27 Staats- und Regierungschefs nicht beantworten lassen. Allen voran der Streit um den Haushaltsrahmen der Union für die Jahre 2021 bis 2027 kann sicher nicht via WebEx, Zoom oder Interactio gütlich in eine Übereinkunft gelenkt werden. „Ich hoffe, dass wir das noch vor 2021 schaffen. Aber es wird von einem Faktor abhängen: dass sich die Chefs persönlich treffen können“, sagte ein hoher EU-Funktionär, der mit diesen Fragen befasst ist. „Es ist schwer vorstellbar, dass sie das via Videokonferenz verhandeln können.“

Die Europäischen Räte der Chefs ermöglichen es nämlich, die Sitzung bei Blockaden zu unterbrechen und sich zu Einzel- oder Gruppengesprächen zurückzuziehen. Hier können die Präsidenten oder Premierminister im vertraulichen Rahmen etwaige Kompromissmöglichkeiten ausloten, ohne gleichsam vor allen anderen die Hosen herunterzulassen. Digitale Konferenzsoftware mag scharfe Bilder und klaren Ton ermöglichen: Wo es darauf ankommt, dass man es menscheln lässt, versagt sie.  (GO)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)

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