Eurokrise

Auf der ewigen Baustelle ist der Bauschluss noch immer nicht in Sicht

Mario Draghi.
Mario Draghi.(c) APA/AFP/DANIEL ROLAND
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Die Frage, ob die Währungsunion auch eine gemeinsame Fiskalpolitik braucht, beschäftigt die EU seit einem Jahrzehnt. Durch Corona wird sie wieder akut.

Brüssel/Athen/Frankfurt. Vor dem Brexit war der Grexit. Die dramatischen Ereignisse der ersten Jahreshälfte 2015, als die Mitgliedschaft Griechenlands angesichts des Spar- und Reformunwillens der linkspopulistischen Regierung in Athen plötzlich zur Disposition stand, war der (bisherige) Höhepunkt der mit Abstand längsten Krise, mit der die Europäische Union jemals konfrontiert war. Im Zuge des von den USA ausgehenden globalen Finanzkrachs von 2008, die durch den Bankrott der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst wurde, wurden die latenten Schwachstellen der Eurozone einer Belastungsprobe unterzogen. Bis dato waren Investoren dazu bereit, die in der Mitte der Währungsunion klaffende Baulücke zu übersehen – nämlich die Tatsache, dass die gemeinsame Geldpolitik nicht über ein gemeinsames fiskalpolitisches Backup verfügt.

Ab dem Herbst 2008 waren die Märkte nicht mehr so gnädig, über dieses Versäumnis hinwegzusehen: Die Spreads zwischen dem Norden und dem Süden – damit gemeint ist die Differenz zwischen den Zinsen, die Mitglieder der Eurozone für ihre Staatsschulden bezahlen müssen – klafften zeitweise derart auseinander, dass sie die Währungsunion zu zerreißen drohten. Verschärft wurde die Lage durch politische Irrlichter wie den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der sich in der Pose des Rebellen gegen das ökonomische Establishment gefiel, anstatt an die Zahlungsfähigkeit seines Landes zu denken.

Dass die Integrität der Eurozone im Sommer 2015 schlussendlich gerettet werden konnte, war das Ergebnis eines Lernprozesses: Alexis Tsipras, der linkspopulistische Premier Griechenlands, blickte in den Abgrund des Staatsbankrotts – trat aber schlussendlich einen Schritt zurück und akzeptierte die Bedingungen der Geldgeber. Zum Erfolg beigetragen hatte Donald Tusk, der damalige Ratspräsident, der während des EU-Krisengipfels im Juli 2015 Tsipras und Angela Merkel auf einen Kompromiss einschwor.

Zum damaligen Zeitpunkt stand Griechenlands Euro-Mitgliedschaft zwar auf Messers Schneide, doch am Fortbestand der Währungsunion gab es de facto keine Zweifel mehr. Zwei Faktoren hatten dazu beigetragen, Euroland zu stabilisieren: Zum einen die Gründung des Euro-Schutzschilds ESM im September 2012, dessen Arsenal mit einer halben Billion Euro gefüllt wurde. Und zum anderen jene Worte, die Mario Draghi, der damalige Gouverneur der Europäischen Zentralbank, zwei Monate vor der ESM-Taufe ausgesprochen hatte: „Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.“ Draghi nahm mit diesen zwei Sätzen den Spekulanten gegen den Euro den Wind aus den Segeln – und sorgte für Ruhe an den europäischen Finanzmärkten.

Gefälle zwischen Nord und Süd

EZB und ESM konnten die Wogen zwar glätten – doch das Grundproblem der Eurozone konnten auch sie nicht lösen: nämlich das zunehmende Gefälle zwischen dem sparsamen, exportorientierten Norden und dem hoch verschuldeten Süden der Währungsunion, dessen Wirtschaftsmotor – der Binnenkonsum – im Laufe der Krisenjahre immer lauter stotterte. Die Tendenz (im Norden wie im Süden), dieses Ungleichgewicht durch das Prisma der Moral zu betrachten, machte die Renovierung nicht gerade einfacher.

Nichtsdestotrotz sind diese Bauarbeiten fortgeschritten. Anders als zu Beginn der Krise steht der ESM Gewehr bei Fuß, um die Zahlungsunfähigkeit eines Euro-Mitglieds abzuwenden. Und mit der Bankenunion ist die Gefahr, die von einem Kreislauf aus maroden Banken und überschuldeten Staatshaushalten ausgegangen war, zu einem Teil gebannt. Allerdings nur zu einem Teil. Denn das vorgesehene Kernelement der Bankenunion – eine Einlagensicherung – fehlt nach wie vor. Und immer noch fehlt die Antwort auf die Frage, ob das langfristige Überleben der Eurozone ohne eine ernsthafte Koordination der Fiskalpolitik (ob gemeinschaftlich oder auf nationalstaatlicher Ebene) möglich ist.

Durch die Coronakrise wird diese Frage wieder akut. Denn die durch die Pandemie verursachten Schäden sind derart gewaltig, dass sie die schwachen Euromitglieder (allen voran Italien) an den Rand des Ruins drängen. EZB und ESM können diesmal nur bedingt helfen. Die Zentralbank sieht sich mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 5. Mai konfrontiert, das die Teilnahme der deutschen Bundesbank an Anleihen-Stützungskäufen der EZB infrage stellt – was die Spreads zwischen Nord und Süd wieder auseinander treibt. Und ESM-Kredite sind keine Lösung, weil auch sie die Gesamtverschuldung der Betroffenen erhöhen – und diese Verschuldung ist momentan das Problem.

Die Krise hat eines gezeigt: Der Glaubenssatz, wonach die EU im Zweifelsfall auf Integration setzt, gilt nicht in Geldfragen. Und ihre Corona-bedingte Zuspitzung hat gezeigt, dass man die Verantwortung für die Stabilisierung des Euro am liebsten auf ewig der EZB umgehängt hätte. Karlsruhe hat dieser bequemen Lösung einen Riegel vorgeschoben. Ob der richterliche Strich durch die Euro-Rechnung dazu führen wird, dass die Baulücken in der Währungsunion gefüllt werden, muss sich weisen.  (la)

15. 9. 2008

2010-2011

2012

2015

5. 5. 2020

Chronologie

Die US-InvestmentbankLehman Brothers geht pleite – und löst eine Finanzkrise aus, die im Herbst Europa erreicht.

Dem überschuldeten Griechenland droht die Zahlungsunfähigkeit. Die EZB startet ihr Programm von stabilisierenden Anleihenkäufen – das in Folge massiv ausgeweitet wird.

Die verbale Intervention von EZB-Chef Mario Draghi entspannt die Lage an den Finanzmärkten. Der Euro-Schutzschirm ESM wird aufgespannt.

Der Showdown zwischen der linkspopulistischen griechischen Regierung und der EU führt beinahe zum Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone. Athen akzeptiert schlussendlich die Sparauflagen der Geldgeber.

Deutschlands Bundesverfassungsgericht erklärt die EZB-Anleihenkäufe für teilweise verfassungswidrig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)

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