Das Post-Brexit-Chaos in Großbritannien und die zähen Verhandlungen um die Modalitäten der Trennung haben den Europäern die Vorzüge der Unionsmitgliedschaft vor Augen geführt.
London/Brüssel. „Auch das noch!“ – so in etwa ließ sich die Stimmung zusammenfassen, die sich nach dem britischen Votum für den Austritt aus der EU am 23. Juni 2016 im Brüsseler Europaviertel breitmachte. Angesicht der zum damaligen Zeitpunkt immer noch akuten Probleme und internen Querelen beim Management der ungewollten Migration nach Europa erschien der Brexit wie ein weiterer Nagel im Sarg der Union. Nach bald vier Jahren der Brexit-Saga muss allerdings der (vorläufige) Schluss gezogen werden, dass die EU diese existenzielle Krise – existenziell deshalb, weil zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration die Gemeinschaft nicht größer, sondern kleiner wurde – erstaunlich gut gemeistert hat.
Diese positive Bilanz basiert auf mindestens vier Faktoren. Die erste Zutat war der Zusammenhalt zwischen den EU-27 bei den Brexit-Verhandlungen. Die Mitgliedstaaten ließen sich zu keinem Zeitpunkt von London auseinanderdividieren und sie stellten die Führungsrolle der EU-Kommission bei diesen Verhandlungen nicht infrage – eine Erfahrung, die für die künftigen Handelsgespräche lehrreich sein dürfte.
Die Kommission (bzw. ihre Professionalität) war der zweite Erfolgsfaktor. EU-Chefverhandler Michel Barnier und seine Chefberaterin Sabine Weyand (die mittlerweile das Handelsressort der Brüsseler Behörde führt) waren kompetent, bestens vorbereitet, und konnten in den Austrittsverhandlungen die Stärken der EU ausspielen und so gut wie alle Ziele der Union durchsetzen.
Das dritte erfreuliche Ergebnis: Das Hickhack demaskierte die Proponenten des Austritts. Die Brexit-Ultras in den Reihen der Tories und Nigel Farage, der Chef der United Kingdom Independence Party (und später der Brexit-Partei) entpuppten sich als ressentimentgeladene Kreuzfahrer, die unliebsame britische Politiker, Richter und Staatsdiener zu „Staatsfeinden“ erklärten, denen keine Spielart des Brexit zu hart sein konnte, und die bereit waren, für ihre dogmatischen Ziele selbst den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs aufs Spiel zu setzen.
„Pour encourager les autres“
Zu guter Letzt führten die zähen Verhandlungen um die Modalitäten des Austritts den EU-27 vor Augen, was sie an der Union haben. Die Briten mussten rasch erkennen, dass der Austritt auch das Ende aller Privilegien bedeutete, die sie im Laufe ihrer Mitgliedschaft zu schätzen gelernt hatten. Und sie mussten am eigenen Leib erfahren, dass der Brexit nicht schmerzlos vonstatten gehen würde. Es ist beileibe kein Zufall, dass nach dem Brexit alle Links- und Rechtspopulisten am Kontinent, die bis dahin ihre Länder aus der Europäischen Union herausführen wollten, dieses Anliegen klammheimlich beerdigten. Heutzutage fordern weder Marine Le Pen in Frankreich, noch Matteo Salvini in Italien, noch die FPÖ hierzulande den EU-Austritt. Der Brexit fungierte also als warnendes Beispiel „pour encourager les autres“, wie es bei Voltaire schön ironisch heißt. (la)
2013
2015-2016
23. 6. 2016
29. 3. 2017
31. 1. 2020
Chronologie
Um den europafeindlichen Flügel der Tories zu besänftigen, verspricht Parteichef und Premier David Cameron ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft.
Die Tories gewinnen überraschend deutlich die Unterhauswahl, Cameron muss sein Versprechen umsetzen. Er erhält von der EU einige kosmetische Zugeständnisse und zieht mit der Empfehlung für den Verbleib in der EU in den Wahlkampf.
Die Briten stimmen mit 52 zu 48 Prozent für den EU-Austritt. Cameron tritt zurück, Theresa May folgt ihm nach.
Großbritannien beantragt offiziell den Austritt, die zweijährige Verhandlungsfrist beginnt zu laufen – und muss angesichts politischer Blockaden in London verlängert werden.
Der Brexit wird vollzogen, Großbritannien ist seit 1. Februar kein EU-Mitglied mehr.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)