Biologie

Die Ohren prägten die Originalität

(c) dpa (A2882 Holger Hollemann)
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Die komplizierte Anatomie des Hörsinns förderte den Siegeszug der Säugetiere.

Wir sind alle Menschen, das heißt auch: Wir sind alle Säugetiere. Wir zählen zu dieser einst aus Reptilien entstandenen Klasse von Wirbeltieren, die, in der Jura- und Kreidezeit von den Dinosauriern kleingehalten, nach deren Aussterben die Erde eroberte. Und zwar alle möglichen Lebensräume: das Land, die Luft (Fledermäuse), das Wasser (Wale, Seekühe, Robben), den Untergrund (Maulwürfe). Und in großer Vielfalt, schon was die Größe anbelangt, von der Etruskerspitzmaus bis zum Elefanten. Vögel sind einander in der Körperform viel ähnlicher als Säugetiere, davon überzeugt ein Rundgang im Zoo inklusive Visite beim Ameisenbären und beim Gürteltier.

Was hat den Säugetieren diese Vielfalt, diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht? Nicht zuletzt ihre Ohren, sagt der Wiener Evolutionsbiologe Philipp Mitteröcker. Er präsentiert gemeinsam mit Anne Le Maître, Nicole Grunstra und Cathrin Pfaff in „Evolutionary Biology" (27. 5.) eine These zur Evolution des Säugetierohrs, das ja nicht nur fürs Gehör zuständig ist, sondern auch fürs Gleichgewicht, für die Kopf- und Körperhaltung und die Stabilisierung der Blickrichtung.

Entkopplung vom Kauen

Der Hörsinn war für Säugetiere von Beginn an besonders wichtig: Der Terror der Saurier trieb sie dazu, vor allem in der Nacht aktiv zu sein, in der man sich besser auf Schall verlässt als auf Licht. Ihre Ohren sind auch deutlich komplizierter als die der Reptilien und der ebenfalls aus solchen entstandenen Vögel. Bei diesen überträgt nur ein einziges Gehörknöchelchen den Schall, dagegen haben Säugetiere einen Knochen, der das Trommelfell trägt, und dazu drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss, Steigbügel), die sich aus dem primären Kiefergelenk bilden, dessen Funktion nimmt ein sekundäres Kiefergelenk ein.

Diese wichtige Transformation ist in der Evolution der Säugetiere mehrmals unabhängig voneinander passiert, manche Forscher meinen, dass die Triebkraft dafür nicht eine Verbesserung des Hörens, sondern des Kauens war. Diese beiden so unterschiedlichen Aktivitäten wurden durch die Umformung jedenfalls entkoppelt. Nebeneffekt: viel komplizierterer Aufbau und viel komplexere Entwicklung des Ohrs. Das wiederum, so Mitteröcker und Kolleginnen, habe der Evolution sozusagen mehr Knöpfe beschert, an denen sie drehen konnte. Und damit gesteigerte Evolutionsfähigkeit des Ohrs, was wiederum zur Anpassungsfähigkeit und zum Formenreichtum der Säuger beigetragen habe.

Tatsächlich zeigen Ohren und Hörsinn bei den Säugetieren eine erstaunliche Vielfalt, man denke nur an die Fledermäuse, die quasi mit Ultraschall sehen, oder an Wale, die unter Wasser hören können. So etwas gibt es bei Reptilien nicht. Diese Vielfalt bringt aber auch einen Nachteil mit sich: größere Störungsanfälligkeit. Da so viele Gene an der Entwicklung der Ohren beteiligt sind, gibt es viele Gendefekte, die sich auf die Ohren – und zugleich auf andere Regionen des Kopfes – auswirken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)

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