Ach, Europa! Frankreich hätte ein vorbildhaftes System, nur zieht keiner mit.
Am unverblümtesten fasste es der Tourismusbeauftragte der deutschen Regierung zusammen, als er über jene Länder sprach, die ein Drittel ihres Bruttoinlandsprodukts via Tourismus erwirtschaften: „Die Menschen, die dort arbeiten, brauchen eine Zukunft, und wir Deutschen brauchen ja Urlaub, um Kraft zu tanken.“ Gut gebrüllt! Nach all der harten Arbeit, die die deutschen Marktführer – gemeinsam mit konsequenter Lohnzurückhaltung – an die Spitze der Union gebracht hat, wollen die coronagestressten Urlauber in diesem Sommer bitte Retsina, sie benötigen Spaghetti Bolognese mit Gabel und Löffel und zum Nachtisch ein(e) Pastel de Nata aus Lisboa! Öffnet Griechenland, Italien, Portugal!
Angesichts solcher entlarvender Überheblichkeit tritt hervor, dass Fallzahlen und Gesundheitsdaten und Erkenntnisse der Virologie weniger als Entscheidungsbasis für bilaterale Grenzöffnungen herhalten als beinharte wirtschaftliche Begehrlichkeiten. Das politische Österreich mit seiner voreiligen Einladung deutscher Sommergäste spielte den Vorreiter der Unsolidarität. Die Corona-Grenzschließung ohrfeigte Europa in die Nationalstaatlichkeit zurück. Dabei hat beziehungsweise hätte Frankreich mit seinen grünen und roten Zonen, seiner Lockerungslandkarte („carte du déconfinement“) ein vorbildhaftes System aufgezogen.
Der Nordosten inklusive Paris liegt zur Zeit in der roten, virusbefallenen Zone, der Rest ist grün. Kriterien: aktive Verbreitung des Virus, Kapazität der Notfallbetten und die nach Analyse der Testkapazitäten hochgerechneten Befallszahlen der Regionen. Man hätte diese Blaupause auf Europa ausweiten können und etwa festlegen, dass Bewohner grüner Zonen einander besuchen dürften. Doch Mitgliedsstaaten verheimlichen ihre Corona-Rohdaten. Sie lauern auf Vorteile im Kampf um den Tourismuskuchen. Wie Österreich auf die vorübergehende slowenische Grenzöffnung – angetrieben von der Angst, Sommerbuchungen an Kroatien zu verlieren – reagierte, zeigt, wie wenig Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen besteht. Hans-Magnus Enzensberger nannte einmal ein Buch: „Ach, Europa!“