Das Scheitern der Hamburger Schulreform hat bundesweite Bedeutung. Was bringt das „längere gemeinsame Lernen“? Laut Bildungsforscher handelt es sich nur um „politische Floskeln“, empirisch sei dies nicht zu belegen.
Berlin/Hamburg. Für die Befürworter des „längeren gemeinsamen Lernens“ ist es ein Dämpfer: Das Nein der Hamburger zur Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre (Primarschule) schlägt deutschlandweit Wellen und dürfte sich auch in anderen Bundesländern auf Reformpläne auswirken. So etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die neue rot-grüne Landesregierung ähnliche Ziele verfolgt, wie sie der Hamburger Senat nun verwerfen muss, oder im Saarland, wo die schwarz-gelb-grüne Regierung die Grundschulzeit auf fünf Jahre verlängern will.
Bildung ist in Deutschland Ländersache, was zu einem föderalen Fleckerlteppich führt: Das Gewirr an Schultypen, Abschlüssen und Anforderungen ist unübersichtlich, der Wechsel von einem Bundesland in ein anderes schwierig. Laufend werden regionale Korrekturen durchgeführt, jedes Bundesland ist auf der Suche nach dem richtigen Rezept, um schulpolitische Fragen toben ideologische Glaubenskriege. Bundesländervergleiche zeigen das Leistungsgefälle zwischen Süden und Norden – am besten schneiden die Schüler in Bayern und Baden-Württemberg ab. Generell tun sich Kinder aus bildungsfernen Schichten und Schüler mit Migrationshintergrund schwerer und haben geringere Chancen, ein Gymnasium zu besuchen.
Soziale Gerechtigkeit?
In Berlin gibt es die sechsjährige Grundschule, wie sie nun in Hamburg abgeschmettert wurde, bereits seit Jahrzehnten. Das führt laut Olaf Köller, Bildungsforscher an der Universität Kiel, zwar zu einer „vergleichsweise hohen sozialen Gerechtigkeit. Insgesamt liegt die Leistung in Berlin aber auf einem niedrigen Niveau.“
Was also bringt das „längere gemeinsame Lernen“? Laut Köller handelt es sich dabei nur um „politische Floskeln“. Empirisch sei nicht zu belegen, dass eine längere gemeinsame Grundschulzeit zu größeren Erfolgen führe. „Wir Bildungsforscher sagen: Es schadet nichts, aber es nützt auch nichts.“
Die Entscheidung in Hamburg habe deutlich gemacht, welch große Bedeutung das Gymnasium in Deutschland habe. Eine Umstellung auf die Primarschule hätte das Gymnasium auf zwei Jahre verkürzt. Aber „in Deutschland ist eine Reform gegen das Gymnasium unmöglich. Es ist die Schulform, die seit Jahrzehnten erfolgreich arbeitet. Während in den 50er-Jahren sechs Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium gingen, sind es heute 30 bis 50 Prozent“, so Köller.
Zwei-Säulen-Modell
Bleibt das Problem der sozialen Gerechtigkeit. „Hier gibt es eine Reihe alternativer Möglichkeiten zur Dreigliedrigkeit Haupt-, Realschule, Gymnasium, die mehr taugen als das längere gemeinsame Lernen.“ Laut dem Bildungsforscher steuern fast alle deutschen Bundesländer auf ein zweigliedriges System zu, während die Hauptschule ein Auslaufmodell ist. Neben dem Gymnasium gibt es dann eine zweite Schulform, die den Wechsel ans Gymnasium ermöglicht und zur Hochschulreife führt: etwa in Bremen die Sekundarschule oder in Baden-Württemberg das sogenannte „Berufliche Gymnasium“. Das Zwei-Säulen-Modell verspricht auch bei sinkenden Schülerzahlen mehr Flexibilität; Schulstandorte können leichter erhalten werden.
Gesamtschulen gibt es etwa in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen, Berlin. Vorläufig aber nur zusätzlich zu Gymnasien. Als alleinige Schulform werden die Gesamtschulen bisher nur in Regionen diskutiert, in denen durch den demografischen Wandel die Schülerzahlen dramatisch wegbrechen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20. Juli 2010)