Jetzt, da die Kinder durch Corona das Fahrrad entdeckt haben, merke ich erst, wie gefährlich die Straßen in Wien sind.
Seit ich mich so richtig erinnern kann, fahre ich Rad. Zuerst natürlich nur im geschützten Hof und vor den Garagen der Siedlung, in der wir wohnten. Dort trafen wir uns am Nachmittag und spielten. „Abstoppen“ zum Beispiel. Man trieb dafür den anderen in die Enge, bis der auf dem Rad das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und mit einem Fuß den Boden berührte. Oder Zoll. Ein Stein, ein Blümchen oder ein Fetzen Papier wurde am Fahrrad versteckt und an den anderen vorbeigeschmuggelt, was weniger seltsam klingt, wenn man weiß, dass uns von der Liechtensteiner Grenze nur einige wenige Kilometer trennten und ganze Familien am Samstag in die Schweiz zum Einkaufen fuhren.
Später, als ich die Fahrradprüfung bestanden hatte – dieser Triumph! – besuchte ich mit dem Rad meine Freundinnen in Rankweil oder Gisingen. Fuhr ins Gymnasium nach Altenstadt. Im Sommer an den Baggersee oder ins Waldbad. Der Busfahrplan war damals mehr als lückenhaft, und so etwas wie Elterntaxis gab es noch nicht: Das Fahrrad bedeutete Freiheit.
Und das bedeutet es für mich immer noch.
Skateboard. Meine Kinder sind in Wien aufgewachsen. Der Beserlpark in der Nähe war zu klein, um dort „Abstoppen“ zu spielen. In die Schule gingen sie zu Fuß, war ja gleich ums Eck, fast alles war gleich ums Eck, als Hannah und Marlene klein waren. Später nahmen sie für weitere Wege die U-Bahn, manchmal auch das Skateboard. Aber das Rad? War nichts für den Alltag. Damit fuhr man am Wochenende in den Prater oder umrundete den Neusiedler See, den Störchen auf der Spur.
Corona hat das geändert. Hannah und Marlene haben die Reifen aufgepumpt, sich vernünftige Schlösser besorgt und entdecken diese Stadt neu, vorsichtig, so ganz trauen sie dem Verkehr noch nicht. Es ist wie Bungee-Jumping, sagt Marlene. Und wenn Hannah uns besuchen kommt, geht sie nach wie vor lieber zu Fuß, zumindest wenn ihr Freund, der mehr Fahrrad-Erfahrung hat, sie nicht begleitet. Der Weg führt nämlich über eine ziemlich stark befahrene Straße . . .
Ich bin diese Strecke neulich gefahren. Früher wäre mir nichts aufgefallen. Nicht die unübersichtliche Kreuzung. Nicht die Tatsache, dass immer wieder unvermittelt der Radweg abbricht und man sich dann zwischen Schienen, parkenden und fahrenden Autos den Weg bahnen muss. Und über den Rowdy, der mich knappest überholte, hätte ich nur mit den Schultern gezuckt. Ich bin das gewohnt. Diesmal klopfte ich, als ich ihn an der nächsten Ampel einholte, empört gegen sein Fenster.
Ich hatte es vergessen, aber: Fahrrad fahren in Wien ist gefährlich. Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene: gefährlich. Und nein, das sollte es nicht sein.