Alice im Finsterland

Christina Henry sieht vertrauenerweckend aus, ihr Buch ist definitiv nicht harmlos.
Christina Henry sieht vertrauenerweckend aus, ihr Buch ist definitiv nicht harmlos.K. M. Osgood
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Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ ist ein Klassiker. Nun sind ein Krimi und ein Horrormärchen erschienen, die sich rund um die Kultfigur und ihren Schöpfer drehen. Lesenswert.

Im Jahr 1865 erschien der wortverspielte literarische Klassiker „Alice im Wunderland“ des Mathematikdozenten und Pastorensohns Lewis Carroll. Das sprechende weiße Kaninchen mit seiner Uhr in der Westentasche, dem das Mädchen Alice in seinen unterirdischen Bau folgt, ist zu einer der berühmtesten Figuren geworden, bis heute kennt sie fast jedes Kind. Tatsächlich hat das Werk über 150 Jahre später nicht nur nichts von seinem Reiz verloren, sondern inspiriert sogar zeitgenössische Autoren wie zwei Neuerscheinungen zeigen. Während US-Schriftstellerin Christina Henry daraus ein düsteres Horrormärchen gemacht hat, nimmt der argentinische Mathematiker und Autor Guillermo Martínez eine sagenumwobene verschwundene Seite aus den Tagebüchern des Alice-Schöpfers Carroll zum Ausgangspunkt eines rätselhaften Kriminalromans.


Pädophilie-Gerüchte.
Martínez thematisiert in „Der Fall Alice im Wunderland“ die bis heute grassierende Frage, inwieweit es sich bei Carrolls – wohl damals schon nicht gesellschaftskonformer – Liebe für kleine Mädchen um pädophile Neigungen handelte. Die junge Wissenschaftlerin Kristen entdeckt eine verschollene Tagebuchseite, die über Carrolls Verhältnis zu Alice Liddell (die er sich als Vorbild für die Romanfigur nahm) Aufschluss bieten könnte und daher von besonderer Brisanz ist. Kurz bevor Kristen das Papier der ehrwürdigen Oxforder Lewis-Carroll-Bruderschaft vorstellen kann, wird sie von einem Auto niedergestoßen – Fahrerflucht.

Schon bald darauf geschieht der erste Mord. Alles dreht sich um die Frage, was auf diesem ominösen Blatt Papier steht und wer Interesse an dessen Verschwinden haben könnte. Als Ermittlerduo treten – wie auch im kürzlich erschienenen ersten Kriminalroman des Autors, „Die Oxford-Morde“, – der Logikprofessor Arthur Seldom und sein junger argentinischer Doktorand auf. Martínez hat einen unterhaltsamen Whodunnit in bester Agatha-Christie-Tradition geschrieben, der zudem interessante Einblicke in das Leben und Wirken Carrolls gewährt.

Deutlich abgründiger geht es in Christina Henrys „Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“ zu. Seit zehn Jahren darbt die von Albträumen geplagte Alice in einem Krankenhaus – ohne Hoffnung auf Entlassung. „Das Kaninchen! Das Kaninchen! Das Kaninchen!“, hatte das verstörte Kind gerufen, ehe man es für verrückt erklärte und in die Anstalt einwies.

Als Alice nach einem Feuer gemeinsam mit ihrem einzigen Vertrauten, dem Axtmörder Hatcher, die Flucht gelingt, begibt sie sich mit ihrem Begleiter auf die Suche nach dem unheimlichen Mann mit langen Ohren aus ihren Träumen. Verfolgt werden die beiden dabei von einem mysteriösen Wesen, das ebenfalls beim Feuer entkommen konnte. Bei ihrer Odyssee durch die „Alte Stadt“ begegnen die Geflüchteten gefürchteten Kreaturen wie der Raupe, dem Walross und dem Grinser. Die große Kunst: Die Autorin schafft es, Alice und Hatcher angesichts der geschilderten Brutalität als Lichtgestalten dastehen zu lassen – obwohl sie selbst Blut an den Händen haben.

Märchen, neu erzählt. Henry hat sich überhaupt auf die Neuinterpretation bekannter Märchen spezialisiert. Nach dem zweiten Band der Alice-Chroniken („Die Schwarze Königin“, geplant im August) werden auch die Neuerzählungen von Peter Pan, der kleinen Meerjungfrau und dem Rotkäppchen im Penhaligon Verlag erscheinen. Eine gute Gelegenheit, um die Originale endlich (wieder) zu lesen.

Neu Erschienen

Christina Henry
Die Chroniken von Alice

Übersetzt von Sigrun Zühlke
Penhaligon Verlag
352 Seiten
18,50 Euro

Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland

Übersetzt von Angelica Ammar
Eichborn Verlag
320 Seiten
16,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2020)

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