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Der richtige Mix aus analog und digital

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Die Corona-Krise fordert uns auf, über das Zusammenspiel zwischen Digitalem und Analogem nachzudenken. Es braucht mehr Digital Locals, so Gerhard Hirczi, Geschäftsführer der Wirtschaftsagentur Wien.

Inmitten großer existenzieller Fragestellungen haben viele Wiener Betriebe enorme Flexibilität bewiesen und ihre Geschäftsmodelle innoviert. Vor allem, indem sie digital aufgerüstet haben. Vom Knopfkönig über den Heurigen bis hin zum Traditionsunternehmen für Handwerksbedarf. Das ist keine Beobachtung, sondern empirisch durch Zahlen belegbar. Über 4000 Wiener Betriebe haben in den letzten sechs Wochen unsere Krisensoforthilfe-Förderungen für digitale Lösungen genutzt. Dafür haben sie selbst Geld in die Hand genommen, zumindest 25 Prozent der Investitionssumme. Wir haben, basierend auf Erfahrungen der vergangenen Jahre, mit einem viel defensiveren Verhalten gerechnet und waren ob der enormen Nachfrage überrascht. Viele dieser Unternehmen, ob Einzelunternehmer, Klein- und Mittelbetrieb oder Großbetrieb, wurden durch die Krise sicher unsanft durchgerüttelt. Viele kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben. Dennoch glaube ich, dass die Wiener Wirtschaft besser ausgerüstet aus der Krise herauskommen wird, und zwar aus eigener Kraft.
Auch die Wirtschaftsagentur musste in diesen sechs Wochen radikal umdenken und sich neu organisieren: 117.366 Minuten oder umgerechnet elf Wochen ohne Unterbrechung hat allein das Team der Wirtschaftsagentur Wien während des Lockdowns in Videokonferenzen verbracht – deutlich mehr, als in der gesamten Prä-Corona-Zeit.

Digital Locals

Wie fast alle haben wir dazu Tools internationaler und nicht lokaler Anbieter genutzt. Schon wenige Tage nach dem Lockdown hatten sich globale Anbieter digitaler Arbeitstools durchgesetzt. Als Wiener Standortagentur wissen wir natürlich, dass es für alle diese Anwendungen auch Alternativen in Rot-Weiß-Rot gegeben hätte. Wir selbst haben ein Verzeichnis mit über 200 heimischen Anbietern zusammengestellt. Allein, die Krise lässt keine Zeit für wohlüberlegte Auswahlprozesse.
Spätestens jetzt aber geht es darum, nicht beim schuldbewussten „Hättiwari“ hängenzubleiben, sondern zu handeln. Jetzt benötigt es einen breiten, idealerweise europäischen Schulterschluss im Beschaffungswesen. Wir alle müssen uns der Auswirkungen unseres digitalen Lebens auf die Gesellschaft und die lokale Wirtschaft stärker bewusst werden. Vielleicht braucht es doch eine Portion Patriotismus im Nutzungsverhalten. Mehr Digital Locals, also Nutzerinnen und Nutzer, die sich der ständig wachsenden Verschränkung ihrer Interessen im Analogen und Digitalen bewusst sind und „think global, act local“ auch in der digitalen Wirtschaft umsetzen. Zu Recht monieren Start-ups, dass es hier mehr Interesse geben könnte.
Das gilt auch und insbesondere für uns alle in der Rolle als Konsumentinnen und Konsumenten. Ja, es ist einfach, günstiger und für viele mittlerweile auch naheliegender bei globalen Riesen einzukaufen als im Geschäft ums Eck. Unsere lokalen Versorger haben das Nachsehen, obwohl sie es sind, die hier vor Ort Wertschöpfung, Arbeitsplätze und Abgaben sicherstellen. Und sie beleben ganz analog auch die vielen Geschäftslokale, die Wien zu einer so lebendigen, liebenswerten Stadt machen. Die Krise hat deutlich gezeigt, wie sehr die kleinen und mittleren Betriebe um ihre Kundschaft kämpfen. Und in den vergangenen Wochen haben sie dafür oft noch unbeackertes, digitales Terrain betreten. Dabei brauchen sie unser aller Unterstützung

Kein analog ohne digital

Aber: Auch wenn der Nahversorger ums Eck jetzt einen cleveren Onlineshop betreibt – der echte Laden ums Eck ist und bleibt eine Keimzelle für die lebenswerte Stadt. Noch sind wir keine digitalen Einzeller, sondern schöpfen aus den Bedingungen und den Begegnungen im echten Leben das, was uns als Menschen ausmacht. Daher braucht es beides – den digitalen Handlungsrahmen und das analoge Spielfeld.
Im Großen haben wir gesehen, in welchem Ausmaß es uns die Digitalisierung ermöglicht hat, die letzten Wochen zu überstehen – wie wäre diese extreme Phase des Lockdown ohne Internet verlaufen! Doch auch wenn sich immer größere Teile der Wirtschaft und auch der Wertschöpfung ins Digitale verlagern, darf man bei aller Wertschätzung nicht darauf vergessen, dass der Kern vieler Geschäftsmodelle dabei dennoch im Analogen, im Gegenständlichen verbleibt. Denn Streaming, virtuelle Präsenz oder digitale Weiterbildungsmodelle können die physische Teilnahme nicht ersetzen. Das gilt vor allem für viele kultur- und tourismusnahe Branchen. Hier muss Digitalisierung genützt werden, um die Wirkung der physischen Nähe zu steigern. Gänzlich ersetzt werden kann sie aber nie. Das virtuelle Erlebnis wird immer nur Ergänzung bleiben. Die Fiaker, die durch die Stadt fahren, der Duft der Rosen im Volksgarten, das Achterl beim Heurigen, das Popfest, der Silvesterpfad – das alles lässt sich online abbilden, mehr nicht. Erleben muss man es im echten Wien, das heute sicher auf solideren digitalen Beinen steht, als in der Zeit, in der wir noch vor acht Wochen gelebt haben.

Hier fordert uns die Krise auf, über die richtige Mischung, über das Zusammenspiel zwischen Digitalem und Analogem nachzudenken. Wo verbleibt der Anker eines Produkts im Analogen und wird durch neue Technologien lediglich ergänzt und wo hat sich dieser Anker vollkommen ins Digitale verschoben? Die Erholung nach der Krise wird auch davon abhängen, ob wir gute Antworten auf diese Fragen finden.

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