Bildband

Stille an der Adria: Reise zu leeren Touristenorten

Lignano und Bibione, Grado, Caorle und Jesolo, touristenfrei: Schon vor der Coronakrise hat „Presse“- Fotograf Clemens Fabry die Big Five der oberen Adria in ihrer Einsamkeit besucht. Die Schwarz-Weiß-Fotos sind nun in einem Bildband erschienen.

Schuld ist irgendwie ein Vierjähriger. Es war Clemens Fabrys erster Italienurlaub mit seinem Sohn, als „begnadeter Kurzschläfer“ stand Elias regelmäßig um halb sechs Uhr morgens auf der Matte: „Papa, gehst du mit mir raus?“

Auf die Streifzüge mit seinem Sohn durch das morgendlich ausgestorbene Lignano nahm Fabry bald seine Kamera mit und begann zu fotografieren. „Der Reiz dieser leeren Stadt, das Kulissenhafte“, beschreibt er, „das übt auf mich eine große Anziehung aus.“

Von diesem Sommer an fuhr Fabry jedes Jahr wieder an die Adria, um zu fotografieren – fortan allerdings allein. Immer im Frühjahr, Ende Februar, Anfang März, nahm sich der Fotograf der „Presse“ ein langes Wochenende lang Auszeit, reiste nach Lignano und Bibione, Grado, Caorle und Jesolo, um die „Big Five“ der oberen Adria, Sehnsuchtsorte so vieler Österreicher, in ihrer Einsamkeit abseits der Saison zu porträtieren. Mit einer analogen Kleinbild- und einer Mittelformatkamera streifte er durch die Gassen. „Keine Menschenseele, hie und da ein paar Arbeiter, der Strand menschenleer: Wann hat man das sonst?“

Der Fotograf.
Der Fotograf.(c) Clemens Fabry



Entschleunigung. Wo andere vielleicht Langeweile sehen, findet Fabry die totale Entschleunigung. „Slow Photography“ nennt er das, was er macht, wenn er allein unterwegs ist und ihm kein Redakteur, kein Redaktionsschluss im Nacken sitzt. „Es ist das komplette Gegenteil von dem, was ich sonst mache. Auch in technischer Hinsicht: Du kannst nichts kontrollieren.“ Und er liebt die sinnlichen Aspekte. „Du musst einen Film einlegen, aufziehen, dann das schöne Auslösegeräusch. Es dauert auch eine Zeit, bis man wieder im Analogen drinnen ist. Es ist ein anderes Arbeiten, man muss mehr im Voraus denken.“ Auch weil die Menge an Film, die man hat, begrenzt ist. Vor Ort nachkaufen? Undenkbar, wo es doch schon schwierig ist, überhaupt ein offenes Hotel zu finden – und zu Mittag etwas zu essen.

Überhaupt verlangsamt sich für ihn in diesen Tagen die Zeit. „Du hast keinen Anhaltspunkt. Nichts hat offen. Es wird in der Früh hell und am Abend dunkel. Nur wenn man Hunger hat, merkt man: Es ist Zeit vergangen.“ So entstehen Schwarz-Weiß-Fotos, die große Ruhe ausstrahlen und zum genauen Hinschauen einladen. Ein einsames Tretboot am Strand, eine geschlossene Bar, drei Männer, die in Caorle im schwarzen Sonntagsanzug Richtung Kirche gehen. 2015 hatte Fabry Bilder vom Meer erstmals ausgestellt, nun versammelt sie ein Fotobuch, erschienen im Verlag Bibliothek der Provinz. Ergänzt werden die Bilder durch Texte von „Presse“-Redakteuren wie Bettina Eibl-Steiner und Timo Völker oder Musikkollegen wie Otto Brusatti und Ernst Molden (Fabry ist gelernter Geiger, spielt auch mit den Neuen Wiener Concert Schrammeln). Er würde sich wünschen, dass die Bilder im Betrachter etwas auslösen, sagt er. „Im besten Fall wie eine Art Meditation.“

Dass das Erscheinen des Buchs in eine Zeit fällt, da die Strände zuletzt auch aus anderen Gründen menschenleer waren, ist ein seltsamer Zufall. Ab 16. Juni ist der Weg ans Meer wieder frei. Vielleicht nutzt mancher den Urlaub ja auch für einen kontemplativen Morgenspaziergang.

(c) Clemens Fabry

Tourist ist man immer nur in der Menge

von Timo Völker

Die Welt ist nur den Narren kein Rätsel, und wir – närrisch genug, uns für etwas anderes zu halten – sind unermüdlich am Deuten und Ergründen. Seit ich Clemens Fabrys Zimmernachbar in der „Presse“-Redaktion bin, was eine glückliche Fügung ergeben hat, büßt das Welträtsel jeden Tag etwas von seinem Mysterium ein. Ehrlich: Man braucht ja nur uns zu fragen. Wir haben zwar auf fast nichts eine Antwort, aber auf alles etwas zu sagen. Bekämen wir mehr Besuch in unserem Bubenzimmer, könnte diese geballte Deutungsmacht besser in die Welt finden. Aber andrerseits ist wohl besser, dass wir „unter sich“ sind, wie man so sagt in Wien.

Meistens reden wir über Autos, das ist sowieso das Gescheiteste: Vermeintlich leblose Objekte, nur nicht dem ewigen Buben – und erst recht nicht dem Fotografen, der in allem ein Gesicht und ein Wesen findet. Sogar in den Dingen, die nicht da sind. Davon handelt dieses Buch. Ich habe mich darin sofort wohlgefühlt – behaglich schaudernd: Ist die Menschheit ausgestorben, stolpert sie nur noch in kleinen Grüppchen Untoter umher?

Ohne Menschen verliert ein Schauplatz seine vorgegebene Handlung, die meist schnell erzählt ist. Es entsteht Raum für Deutung. Ich sehe eine Landschaft, an der die Herde das Interesse verloren hat. Wie eine Sandkiste, in der Kinder ihre Spielsachen zurückgelassen haben. Der Ort an der Adria, wie wir ihn kennen, hat eine Wendung erfahren. Es wird spannend. In diesen Bildern sind wir ziemlich allein. Nichts geht dort vor sich, alles kann passieren. Das Meer rauscht, die Sonne scheint, der Wind fährt durch die Haar'.

Clemens Fabry
Clemens Fabry
Clemens Fabry
Die Presse/Clemens Fabry

Neu Erschienen

Clemens Fabry

Adria. Wenn der Sommer schläft

Bibliothek der Provinz 132 Seiten
48 Euro

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