Outbreak of the coronavirus disease (COVID-19) in Buenos Aires, Argentina
Bericht aus Argentinien

Isolation in Buenos Aires: Ein Absturz zwischen Pandemie und Pandämonium

Buenos Aires steht seit 20. März unter Verschluss. Die Wirtschaft bricht ein, die Unzufriedenheit wächst, und die Covid-Intensivstationen füllen sich jetzt auch. Die Regierung erwägt einen zweiten, totalen Lockdown. Kann Argentinien sich das leisten? Der neunte Staatsbankrott droht. Bericht aus einer Metropole vor einem doppelten Kollaps.

Erst war da dieser Schrei: „Nein, dort nicht, komm runter.“ Und dann, als meine Frau schon die Treppe raufrannte, ein lauter, dumpfer Schlag. Als ich auf die Terrasse kam, sah ich einen weiblichen Körper, zierlich, dunkelhaarig, Mitte 30, auf dem Wellblechdach meines Nachbarn liegen. Rücklings und reglos.

Während wir die Notrufzentrale verständigten, öffnete die Abgestürzte ihre Augen und bewegte den rechten Arm, sie zuckte. „Ja, ja, sie ist am Leben“, rief meine Frau in ihr Handy, „Bitte kommen Sie schnell.“

Zehn Stockwerke liegen zwischen der Terrasse des Wohnhauses, von der sich die Lebensmüde stürzte, und dem Dach des Geräteschuppens, wo sie aufschlug und wimmerte. Während ich auf sie einredete, um sie bei Bewusstsein zu halten, kam mir diese düstere Assoziation, die mich seither immer wieder befällt, sobald in meinem Kopf der Erinnerungsfilm an diesen Sonntagabend anläuft: Ist dieser jähe Fall meiner Nachbarin nicht ein Pars pro toto? Ein, weiß Gott, drastisches Sinnbild für die Situation des Landes, in dem ich seit 13 Jahre lebe, aus dem ich berichte?

Vollzieht Argentinien, das vor 70 Jahren reicher war als etwa Australien und Kanada, nicht erneut einen Sprung ins Ungewisse? Sind diese Tage, Wochen, Monate, in denen die Regierenden versuchen, das Zusammenleben, das Zusammensein, das Zusammenarbeiten der Bürger zu unterbinden, nicht auch ein Versuch, das Aufschlagen auf dem Betonboden der Realität so lange wie möglich hinauszuschieben?

Seit fast 100 Tagen gilt zwischen Formosa im Norden und Feuerland im Süden das Dekret zur „sozialen und obligatorischen Isolation“. Ein Lockdown zur Abwehr des Virus Sars-CoV-2 und Stärkung eines ausgezehrten Gesundheitssystems. Seit 20. März sind Außengrenzen geschlossen, der Inlandsverkehr blockiert, Personenbewegungen eingeschränkt. Keine Flüge, keine Feiern und, unfassbar, kein Fußball.

Der Betonboden der Realität

Anfangs galt eine rigide, landesweite Ausgangssperre, deren Strenge ab der dritten Woche von lokalen Behörden reduziert werden konnte, entsprechend der jeweiligen Lage. Heute funktionieren Geschäfte und Betriebe in weiten Teile des Landes mit Vorbehalt und Masken. Aber die Hauptstadt und ihr Umland bleiben unter Verschluss. Restaurants, Schulen, Theater, Baustellen, Kleiderläden, Fitnessstudios, Autowäscher, Tangobars, Stundenhotels. Geschlossen, versperrt, stillgelegt. Zahnärzte, Augenärzte behandeln lediglich Notfälle. Und Psychologen (Buenos Aires hat die größte Dichte an Psychoanalytikern der Welt) nur online.

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