Richterspruch: "Unabhängigkeit des Kosovo ist legitim"

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Für den Internationalen Gerichtshof verletzt die Abspaltung des Kosovos von Serbien nicht internationales Recht. In Prishtina feierten die Menschen den Richterspruch wie ein gewonnenes Fußballmatch.

Es war ein Hupkonzert wie nach einem gewonnenen Fußballspiel: Autos mit heruntergekurbelten Scheiben wälzten sich durch den Nachmittagsverkehr in der Kosovo-Hauptstadt Prishtina, im Fahrtwind wehten die zwei Jahre jungen blauen kosovarischen Fahnen – und vereinzelt auch rote albanische.

Die Freude über den Richterspruch aus Den Haag war überbordend: Dort hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) gerade geurteilt, die Abspaltung des Kosovos von Serbien im Februar 2008 habe nicht das Völkerrecht verletzt. In den Cafés hatten sich zahllose junge Menschen zusammengefunden und bei Cola und kühlem Bier gebannt auf die Bildschirme gestarrt: „Es ist ein guter Tag für den Kosovo“, freut sich ein jugendlicher Passant über den „eindeutigen Spruch“ des Gerichts.

>>> PDF: Das komplette Gutachten (2 MB; Französisch)

>>> PDF: Erklärung zum Gutachten (400 KB, Englisch)

Eigentor für Serbien

Der Richterspruch des IGHs hat allerdings einen Schwachpunkt: Er ist nicht bindend, sondern gilt nur als juristische Expertise. Dennoch wird der Spruch nach Meinung politischer Beobachter großen Einfluss haben, da er dazu führen könnte, dass nun mehr Länder den Kosovo als unabhängigen Staat anerkennen werden. Bisher haben erst 69 Staaten diesen Schritt unternommen, darunter die USA, Österreich und die meisten Staaten der Europäischen Union, nicht jedoch China, Russland oder EU-Staaten wie Spanien und die Slowakei.

Serbien hat sich also ein Eigentor geschossen, denn die Initiative für die Klage vor dem IGH hatte Belgrad ergriffen. Es wollte klären lassen, ob die im Februar 2008 erfolgte einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovos völkerrechtlich korrekt war oder nicht. Denn Belgrad sieht den Kosovo nach wie vor als einen Teil Serbiens an.

Doch das Urteil des IGHs reicht weit über die Kosovo-Serbien-Problematik hinaus und dürfte heftige politische Debatten auslösen. Es dürfte vor allem in Ländern wie China, Russland, Spanien oder auch Rumänien als ein regelrechter Affront aufgefasst werden. Denn in den genannten Ländern gibt es starke ethnische Minderheiten, die ebenfalls nach Unabhängigkeit streben. In China gilt das beispielsweise für Tibet, in Spanien für Katalonien und das Baskenland, in Russland für Tschetschenien. Vor allem auch deshalb haben diese Länder bisher den Kosovo nicht als souveränen Staat anerkannt, da sie fürchten, dass das Beispiel Schule machen könnte.

Spindelegger: Kein „Triumph“

Außenminister Michael Spindelegger (V) meint, „das Gutachten ist kein Grund für Triumphrufe von der einen oder der anderen Seite. Das Gutachten sollte vielmehr von Belgrad und Pristina als Chance genutzt werden, um ein neues Kapitel in den Beziehungen Serbien-Kosovo aufzuschlagen“.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, die USA und die EU warben für einen Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo. Die Europäische Union hat dem Kosovo und Serbien die Integration in die EU in Aussicht gestellt. „Die Zukunft Serbiens liegt in der Europäischen Union. Die Zukunft des Kosovos liegt ebenfalls in der Europäischen Union“, sagte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton.

Serbiens Präsident Boris Tadic bekräftigte, dass „Serbien die einseitig ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo nie anerkennen wird“.

„Ich erwarte, dass Serbien auf uns zukommt und mit uns über die vielen Themen von wechselseitigem Interesse, von wechselseitiger Bedeutung spricht“, sagte Kosovos Außenminister, Skender Hyseni, in einer ersten Reaktion. Serbien hatte schon vor der Verkündung des Gutachtens auf neue Verhandlungen über den Status des Kosovos gedrängt. Dies ist nach dem Richterspruch in Den Haag indes unrealistischer denn je.

Der Kosovo stand nach dem Kosovo-Krieg 1999, in dessen Verlauf die Nato wochenlang Ziele in Serbien bombardierte, unter UN-Verwaltung. Der mittlerweile verstorbene serbische Präsident Slobodan Milošević hatte zuvor rund 800.000 Kosovo-Albaner vertreiben lassen.

Die UN-Richter standen vor einer schweren Entscheidung. Denn sie mussten zwei völkerrechtliche Prinzipien gegeneinander abwägen. Das Recht auf Selbstbestimmung, das die Kosovo-Albaner für sich mit ihrer Unabhängigkeitserklärung von 2008 in Anspruch nahmen, und das Prinzip der territorialen Integrität eines Staates, das die Serben für sich reklamierten. Das Recht der im Kosovo lebenden rund zwei Millionen Albaner auf Selbstbestimmung wog für die Richter des IGHs in Den Haag offenbar schwerer als das staatliche Integritätsprinzip.

„Keine Verletzung von 1244“

Im Völkerrecht gebe es kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen, meinte der Präsident des Gerichtshofs, Hisashi Owada, bei der Verlesung des IGH-Gutachtens. Auch durch die UN-Resolution 1244, die 1999 die territoriale Integrität des damaligen Jugoslawien aus Serbien und Montenegro bekräftigte, bestünde kein solches Verbot. „Das Gericht kann das Argument nicht akzeptieren, dass die Resolution ein Argument enthält, das die Möglichkeit der Zweck der Unabhängigkeit des Kosovos verhindert. Zweck der Resolution ist, eine vorläufige Übergangsverwaltung zu errichten, ohne über den endgültigen Status des Kosovos zu entscheiden.“

CHRONOLOGIE

1989. Die serbische Führung hebt die Autonomierechte der Provinz Kosovo auf. Die albanische Mehrheitsbevölkerung beginnt aufzubegehren, der Konflikt zwischen Serben und Albanern nimmt an Schärfe ständig zu. Ab 1997 nimmt die albanische Untergrundarmee UÇK den bewaffneten Kampf gegen die serbischen Sicherheitskräfte auf.

1999. Die Nato interveniert im Kosovo und greift (Rest-)Jugoslawien an. Massive serbische Militäraktionen führen zur Vertreibung von Zigtausenden Albanern. Der Kosovo erhält nach Nato-Einmarsch UN-Verwaltung.

Februar 2008: Kosovo erklärt nach ergebnislosen Verhandlungen seine Unabhängigkeit. Die Anerkennung durch die internationale Staatengemeinschaft erfolgt eher zögerlich.

22. Juli 2010: Der Internationale Gerichtshof liefert sein Gutachten zur Unabhängigkeit Kosovos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2010)

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